Solvej Helweg Ovesen

Solvej Helweg Ovesen (DK/DE) ist Kuratorin und Kulturwissenschaftlerin.
Solvej Helweg Ovesen leitet seit 2015 die städtische Galerie Wedding – Raum
für Zeitgenössiche Kunst, Berlin, und kuratierte u.a. “Ambereum” Roskilde
Festival, 2019-22, “Sensorium” Riga Biennale, 2018, und “influenza. theatre of
glowing darkness” Danish Pavilion Venice Biennale, 2017. 2022 konzipierte sie
die KGB-Konferenz “Schaffen ohne Erschöpfung – Nachhaltigkeit in Kunst und
Kultur”, Zitadelle, Berlin. Im Jahr 2023 initiierte und kuratierte sie das
Kunstprojekt POLY. A Fluid Show im KINDL und POLYMORPH in der Galerie
Wedding, u.a.. Sie ist Mitbegründerin und Dozentin des kommunalen
Kuratorenkurses CURARE, Bezirksamt Mitte, Berlin

Polymorph – ein Gespräch zwischen Cibelle Cavalli Bastos und Solvej Helweg Ovesen

18.10.2023
Cibelle Cavalli Bastos »POLYMORPH«, Galerie Wedding 2023, Foto: Juan Saez
Cibelle Cavalli Bastos »POLYMORPH«, Galerie Wedding 2023, Foto: Juan Saez

Cibelles Cavalli Bastos Soloausstellung POLYMORPH in der Galerie Wedding und der skulpturale Beitrag zur Gruppenausstellung POLY. A Fluid Show im KINDL sind hybride Manifestationen von gelebter Erfahrung, die algorithmisch, physisch und materiell verarbeitet wird. Kuratiert von Solvej Helweg Ovesen.

Solvej Helweg Ovesen: In deiner Arbeit, vielleicht auch in deinem Leben, spielst du mit einer hybriden Vorstellung von Realität. Für dich ist Realität subjektiv: Es geht darum, worauf wir uns konzentrieren und wie wir einen realen haptischen Raum und einen hybriden, digitalen Raum integrieren. Welchen Ansatz verfolgst du in Bezug auf die Realität und die menschliche Wahrnehmung dieser Realität? Welche Rolle spielt dieser Ansatz in deiner Arbeit?

Cibelle Cavalli Bastos: Ich bin immer wieder fasziniert von den Feinheiten unserer Wahrnehmung der Realität. Es ist kein Zufall, dass ich mich mit der erweiterten und gemischten Realität beschäftigt habe. Für mich sind diese Technologien eine tiefgründige Metapher für die fließende Natur der Existenz und die Multidimensionalität. Wir nehmen die Welt so wahr, dass unser Blick die Wellenfunktion der Realität kollabieren lässt und das, was wir sehen, individualisiert und einschränkt. In einem psychischen Sinne existieren wir bereits in erweiterten und virtuellen Realitäten. Der Formalismus als kulturelles Konstrukt übt einen erheblichen Einfluss auf unsere Wahrnehmung aus. Wenn eine Kultur auf der Grundlage materieller Form und Erscheinung starr definiert, zuordnet und ausschließt, behindert sie unsere Fähigkeit, das Wesen von Objekten und Personen wirklich wahrzunehmen. Diese Dynamik erzeugt ein hohes Maß an Gewalt und Missverständnissen.

SHO: Du erwähnst den Formalismus, und deine Ausstellung in der Galerie Wedding heißt POLYMORPH, was so viel wie vielgestaltige oder veränderliche Form bedeutet und auf das Gegenteil von Formalismus hinweist. Was ist deine Mission in Bezug auf den Umgang mit Materialität und Form?

CCB: Meine Interaktion mit Materialien dient als Reflexionsinstrument, eine Möglichkeit, mit meinem Unterbewusstsein in Verbindung zu treten und die formalen Ergebnisse meiner Forschung zu extrahieren. Es wird zu einem Spiegel, einer symbolischen Darstellung meines Prozesses, einer verschlüsselten Botschaft. Ich verfolge einen prozessualen und konzeptionellen Ansatz und produziere Objekte, die sich einer Kategorisierung entziehen. Diese nicht-binäre, queere Objektivität spiegelt meine eigene nicht-binäre Identität wider.
Ich fühle mich zu Materialien, einschließlich Software und Techniken, auf einer viszeralen und magnetischen Ebene hingezogen. Ich folge meinem Glücksgefühl, lasse mich von ADHS-geleitete spezielle Interessen, konzentriere mich auf den Moment und lausche diesen Reizen ganz genau. Ich fühle mich oft von ausrangierten oder dekontextualisierten Materialien angezogen. Klassendiskriminierung und Sexismus haben einen großen Einfluss auf Materialien, Farben, Produktionsweisen und die Art und Weise, wie meine Arbeit wahrgenommen wird.

Ich stelle mich aktiv gegen Chromophobie, sowohl bei mir selbst als auch bei anderen. Es gibt den Irrglauben, dass solche Materialien nicht »stilvoll« oder zu primitiv sind, was auf den Einfluss des Kolonialismus der weißen Vorherrschaft zurückgeht. Ich habe eine tiefe Affinität zum Wachstuch, dem in brasilianischen Haushalten weit verbreiteten Tischtuch. Indem ich dieses Material hervorhebe und in meine künstlerische Sprache einbeziehe, möchte ich diejenigen ansprechen, die klassistische Vorstellungen aufrechterhalten. Wenn ich male,
arbeite ich schnell und wähle die Farben zufällig aus, ohne mich an eine vorgegebene Palette zu halten oder mich auf die Komposition zu konzentrieren. Ich schließe die Augen, wähle die Farben nach dem Zufallsprinzip aus und versuche, inmitten des scheinbaren Chaos Harmonie zu finden. Es ist eine Übung im Gleichgewicht zwischen Aktion und Untätigkeit, bei der ich meine inneren Impulse beobachte, um Harmonie zu erreichen. Ich schätze Readymades und betrachte Memes, Software und die ästhetischen Trends der erweiterten Realität als Materialien für meine Assemblagen.

2P3A3272
1/4
Cibelle Cavalli Bastos »POLYMORPH«, Galerie Wedding 2023, Foto: Juan Saez
2P3A3322
2/4
Cibelle Cavalli Bastos »POLYMORPH«, Galerie Wedding 2023, Foto: Juan Saez
2P3A3304
3/4
Cibelle Cavalli Bastos »POLYMORPH«, Galerie Wedding 2023, Foto: Juan Saez
2P3A2895
4/4
Cibelle Cavalli Bastos »POLYMORPH«, Galerie Wedding 2023, Foto: Juan Saez

SHO: Manchmal morphst du deine Materialien selbst und brennst oder klebst sie zusammen… Latex, Wachstücher, alte Kleidung, alles aus Plastik. Wer inspiriert dich in deiner künstlerischen Praxis?

CCB: Manchmal ist es witzig, dass ich für meinen MA an der Kunsthochschule in die Abteilung für Malerei gegangen bin, denn ich arbeite viel mehr als alchemistische*r Bildhauer*in. Für mich geht es nicht so sehr darum, mir etwas vorzustellen. Ich bin sehr nicht-retinal. Durch Rose Selavy habe ich eine tiefe Resonanz mit Duchamp und verstehe Duchamp als queere Person. Duchamp hat sich nicht einfach für die Linse von Man Ray verkleidet. Rose Selavy war da draußen in Drag (um das Mindeste zu sagen), sie existierte, hatte ein Leben und ihr eigenes Werk. Duchamp forderte den künstlerischen Geschmack und die Stagnation in der Kunst und im Leben heraus. Er sagte: »Heute kubistische Malerei, morgen: Marmorwürfel in einem Käfig, danach… Schach spielen.« Ich hatte zum Beispiel ein einjähriges Projekt, bei dem ich» Inner Botanicals« tätowierte. Ich verändere und passe mich an, wenn es nötig ist, und das gilt auch für meine Praxis. Mentale Gesundheit und Lebendigkeit stehen an erster Stelle.

SHO: Wie verschmilzt du verschiedene Zeiten und Dinge? Gibt es Parallelen bei den Mutationsmethoden? Sogar zu der Art und Weise, wie wir unsere verschiedenen Selbste, unsere Körper verändern?

CCB: Wenn ich die Heißluftpistole in der Hand halte, eines meiner Lieblingswerkzeuge im Studio, bin ich von der Verwandlung fasziniert. Es ist eine unterbewusste Metapher, die meine Neugier auf Verwandlung weckt und darauf, wie die Umwelt uns formt. Wenn ich Latex- und Stoffarbeiten anfertige, weiß ich, dass sie aushärten und sich weiterentwickeln und auf ihre Umgebung reagieren.

Sie werden dunkler und nehmen neue Formen an, je nachdem, wie sie behandelt werden. Wir altern, wir bekommen Falten – sind ein Produkt unserer Umwelt. Ich lehne die Vorstellung ab, dass wir als solide, singuläre Einheiten existieren. Wir sind in ein großes Meer von Identitäten, Wünschen, Willen und Impulsen getaucht. Ich habe lebhafte Visionen vor meinem geistigen Auge, und dann muss ich sie entschlüsseln und durch sie navigieren, um zu verstehen.

SHO: Ich finde es toll, dass dein Umgang mit Materialien auch erklärt, warum dich das »Wie« und nicht das »Was« beim Kunstmachen interessiert. Wie komponierst du ein großformatiges Panorama wie die Wandcollage für die Galerie Wedding?

CCB: Der Prozess, den ich bei meinen Skulpturen anwende, spiegelt den der Selbsterkundung wider – das Stoßen, Brennen, Schieben. In ähnlicher Weise ist ein Softwareprogramm, auch wenn es weicher ist, für mich immer noch einMaterial und nicht nur ein Werkzeug, da es Grenzen und Möglichkeiten besitzt. Ich treibe die Software an, wie ich es mit einem Material tun würde, und bringe sie an ihre Grenzen, bis ich den »Klick« einer Geste erreiche. Bei der Arbeit mit Sprachmodellen, die auf Eingabeaufforderungen basieren, sage ich ihnen, dass sie etwas tun sollen, teste ihre Befehle, suche nach unerwarteten Ergebnissen und vermeide bloße Reproduktionen ihres Trainings. Wenn ich ein technisches Werkzeug oder eine Software verwende, frage ich mich: »Wie kann ich das hacken?« Ich fange gerne bei Null an, aber ich schätze auch Vorlagen, denn sie sind wie vorgefertigte Produkte (»readymades«).

Ich persönlich habe eine starke nostalgische Neigung und suche oft in der Vergangenheit nach Hinweisen. Ich mache Bilder in meinem Atelier, dokumentiere alles in 360 Grad und scanne in 3D. Ich habe Scans von den meisten Dingen, die ich im Atelier gemacht habe. Ich nehme diese verschiedenen Schnappschüsse der Wahrnehmung, eines Moments, der Zeit, in den Atelierräumen auf und füge sie mit Hilfe von KI-Collagen zusammen. Dieser mit KI interagierende Prozess der Verschmelzung von Zeitlichkeit hilft mir, das ganzheitliche Thema meiner Praxis zu finden und die Authentizität der Gesten und ihre zeitliche Relevanz zu bestätigen. Das Einfügen von Bildern von Kunstwerken in dieses Collage-Bild ist wie eine vorübergehende Verkörperung eines formalistischen Blicks, um zu verstehen, wie die Form selbst wahrgenommen, kommuniziert und als Bild zurückgesendet wird. Anschließend füge ich nahtlos andere Kunstwerke ein, die ich im Atelier von Hand geschaffen und dokumentiert habe, und verwische so die Unterscheidung zwischen handgemacht und erdacht.

Die Frage, wie wir Objekten und Menschen einen Wert zuweisen, ist ein wichtiges Diskussionsthema. Ich interessiere mich für Ontologie, Erkenntnistheorie und Axiologie, und KI berührt diese Interessen. »Was ist die Arbeit« oder »Wer ist die Künstler*in«. Ist das Werk das Stück, das ich mit meiner Hand gemacht habe, ist das Werk das, was digitalisiert wird? Ist das Werk die Arbeit, die ich mache, oder posiere ich mit der digitalisierten Version des Werks neben dem Werk? Geht das Werk ins Atelier? Ist es eine Fotografie? Ich mag diese vollständige Destabilisierung der geerdeten Realität in der physischen Materialität, weil ich letztlich ein echtes Problem mit dem Formalismus und seinen Folgen in der Gesellschaft habe. Mein Sein wird sich auf das konzentrieren, worauf es sich konzentrieren will.

SHO: Besteht die Befürchtung, dass KI uns kontrollieren wird, und ist der Körper eine Form des Widerstands dagegen? Wie siehst du den Körper in Bezug auf deine Praxis? Du sprichst davon, wie er entscheidet, mit welchem Medium du an einem bestimmten Tag arbeitest.

CCB: Ich sehe den Körper als eine Avatar-Schnittstelle, die auf Kohlenstoff basiert und an die Subjektivität gebunden ist, die nicht lokal ist. Es ist die Avatar-Schnittstelle, durch die man in die Realitätswahrnehmung(en) vermittelt wird. So sehe ich den Körper, und ich liebe es, speziell in sozialen VR-Räumen abzuhängen. Wenn man in einem anderen dimensionalen Raum taucht, gewöhnt man sich an diesen Synthesizer-Körper, seinen VR-Avatar und den der anderen. Gleichzeitig sehe ich Körper als Avatar-Schnittstellen; auf biologischer Ebene ist der Körper ein Zellkollektiv, das z. B. Peptide an das Gehirn sendet: »Hey, ich brauche Zucker«. Sorge dafür, dass der Magen dieser Person schmerzt, damit ich etwas Zucker bekomme. Ein ganzer Kosmos meditiert unsere Erfahrung hier auf der Erde, in einem Körper. Und dann geht man in die VR oder MR und stellt fest, dass ich jetzt die Realität durch zwei Geräte vermittle: durch die Technologie und dann den Körper in ein Portal zu einer anderen Wahrnehmung und einem anderen Raum. Und ich glaube nicht, dass das eine realer ist als das andere, denn die persönliche Realität ist Emotion. Emotionen sind real. Gefühle sind real. Der Ort des Gefühls ist in dir selbst, in deinem emotionalen Körper; dein emotionaler Körper ist nicht dein physischer Körper, kann aber durchaus deinen physischen Körper somatisieren.

SHO: Hast du Angst, dass eine Maschine dir das Leben schwer machen könnte?

CCB: Wir müssen uns die Menschen ansehen. Wir sind nicht sehr menschlich gewesen. Wir Menschen sind schon seit langem eine KI, die algorithmisch und entsprechend der sozialen Konditionierung arbeitet. Und das Problem mit der KI ist die Beschleunigung der dort diskutierten Themen, die gesellschaftliche Konditionierung, die sich schlimmer als ein Lauffeuer ausbreitet. Welche Kultur wird sich in der kollektiven Psyche durchsetzen? Die Menschen, die in der Kodierung arbeiten und in diesem Bereich die Datensätze produzieren, die in die KI einfließen, sind sie von diesen gesellschaftlichen Viren befreit worden? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Denken rassistisch, ihre Psyche patriarchalisch und ihr Verhalten femmephob sind? Das muss geprüft werden. Der Mensch ist nicht perfekt. Daher sind die Dinge natürlich fehlerhaft, weil wir Menschen sie erschaffen.

Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt und basiert auf einem Gespräch
zwischen Cibelle Cavalli Bastos und Solvej Helweg Ovesen im Juli 2023.

Cibelle Cavalli Bastos »POLYMORPH«
Kuratiert von Solvej Helweg Ovesen
15.09. bis 25.02.2024

Galerie Wedding – Raum für zeitgenössische Kunst
Müllerstraße 146 – 147
13353 Berlin

Parallel zu POLYMORPH zeigt Cibelle Cavalli Bastos auch skulpturale Arbeiten
in POLY. A Fluid Show im KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst im
Rahmen einer institutionellen Zusammenarbeit, 17.09.2023 bis 25.02.2024.

Cibelle Cavalli Bastos’ (BR) künstlerische Arbeit richtet sich gegen gesellschaftliche Algorithmen & Konditionierungen und sucht nach nichtkonformen Verhaltensmustern: Durch die Abstraktion von Daten werden neue Grenzen, Bilder und Ideen des Polymorphismus von Selbst und Kollektivität umgewandelt und zusammengefügt. Performances, Malerei, Sound, Skulptur, Video, Fotografie, Text, metaverse-basierte immersive Installationen, KI und Mixed Reality verweben und verknüpfen sich zu Begriffen von Identität, hinterfragen künstlerische Arbeit und fordern Formalismus heraus. Seit Bastos die künstlerische Ausbildung am Royal College of Arts in London 2015 mit einem Master abschloss, sind experimentelle Zugriffe zwischen Materialität und Virtualität wiederkehrender Teil des Oeuvres. Bastos‘ Werk „Husky Hides“ (Latex und Textil) die zum Beispiel vor kurzem bei Fotografiska, Berlin 2023 ausgestellt wurde, steht in Kontinuität zu diesen experimentellen Zugriffen der Materialität. Bastos hat weltweit vier Musikalben unter dem Namen “Cibelle” veröffentlicht, u.a. im Martin-Gropius-Bau (Berlin), ICA (London), MASP (São Paulo) und in der Carnegie Hall (NYC) ausgestellt und war Gastdozent*in,
Tutor*in und Panelist*in an der Stanford University, Graduate Center of the City University of New York und vielen anderen. Bastos lebt und arbeitet in Berlin.

 

 

Teilen