Maike Brülls

Maike Brülls arbeitet als Journalistin in Berlin. Sie hat Kulturjournalismus studiert. Ihre Texte sind unter anderem in der taz, bei VICE, ZEIT Online, DUMMY und MISSY erschienen. Außerdem arbeitet sie an Videos für verschiedene Formate des funk-Netzwerks.

„In der Stadt ist Platz für ganz unterschiedliche Facetten“

07.05.2019
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In ganz Berlin ist Kunst verteilt. Wer sich auf die Suche begibt, lernt die Stadt neu kennen. Dabei hilft der Kunstführer „Marmor für alle“ von Jörg Johnen. Ein Gespräch mit dem Autor über Kunst im öffentlichen Raum

Jörg Johnen war der Galerist von so großen Namen wie Thomas Ruff, Andreas Gursky oder Jeff Wall. Dann schloss er seine Galerie. Nun hat er ein Buch geschrieben: „Marmor für alle. Zur Kunst im öffentlichen Raum“. Ein Kunstführer, der durch die Straßen Berlins hin zu gut und weniger gut sichtbaren Kunstwerken in der Stadt führt. Es erzählt die Geschichte des Werkes, gibt eine kurze kunsthistorische Einordnung und auch Informationen zu den jeweiligen Künstler*innen. Zum Start unserer Reihe zu Kunst im öffentlichen Raum haben wir mit dem Kunstkenner über seine liebsten Werke gesprochen.

Herr Johnen, Sie widmen der Berliner Kunst im öffentlichen Raum ein ganzes Buch. Wieso?
Jörg Johnen: Das liegt vor allem an Berlin selbst. Es gibt eine so überwältigende Vielzahl von Skulpturen, ich glaube das ist in keiner anderen Stadt Deutschlands so. Allein diese Fülle hat mich angeregt. Und dann hat mich auch die Arbeit an dem Buch selbst gereizt. Diese Skulpturen sind ja überall verteilt und bei der Suche nach ihnen lernt man die Stadt wieder neu kennen. Gleichzeitig dachte ich, es wäre schön, eine Übersicht über sie zu haben, damit jeder Person dieses künstlerische Potential leichter zugänglich ist.

Welche Bedeutung hat denn die Kunst im öffentlichen Raum?
Dass sie für alle zugänglich ist, ist so das Hauptmerkmal. Dann hat sie noch ganz viele andere Facetten. Das hängt dann von dem Kunstwerk ab und von der Location. Manche sind mehr als Präsentation angelegt und manche eher als Provokation und wieder andere sind reine Dekoration. Manches ist Teil des Zeitgeistes. Berlin war so wahnsinnig zerstört, dass nach dem Krieg einfach ein riesen Bedarf war, was die Gestaltung von Plätzen, Parks und Architektur betrifft. Und weil gerade moderne Architektur einen großen Hang zur Nüchternheit hat – diese ganzen Waschbetonfassaden aus den Sechzigern und so weiter – gab es auch den Bedarf, ein Gegengewicht zu schaffen.

Wo sieht man das?
Ein Paradebeispiel ist die Deutsche Oper. Etwas langweiligeres als diese Waschbetonfassade kann man sich ja gar nicht vorstellen. Aber das wird durch diese grandiose Skulptur von Hans Uhlmann komplett aufgewertet und wird dadurch auch wieder optisch attraktiv.
Die Zerstörung nach dem Krieg ist der eine Grund, warum Kunst im öffentlichen Raum so begehrt war. Das zweite Thema war, dass man den Deutschen Demokratie beibringen wollte. Das vergisst man heute allzu gerne, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ja als extrem militant und aggressiv galt. Also war es ein Anliegen von amerikanischer oder englischer Seite, dass man die Deutschen zu Demokratie erziehen wollte und da natürlich auch Kunst eine ganz wichtige Rolle spielte. Und dann war das dritte Thema Ostberlin versus Westberlin. Da gab es einen riesen Wettbewerb, welche Seite jetzt die besseren Konzepte für Stadtplanung und damit zusammenhängend für Kunst hatte.

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Henry Moore: Large Divided Oval: Butterfly. Foto: Mathias Rümmler

Lässt sich dieser Unterschied heute noch sehen? Oder ist das alles abgerissen?
Das kann man jetzt auch noch ganz gut nachvollziehen. Man muss ja nur das Hansaviertel aus dem Westen und die Karl-Marx-Allee im Osten in Hinblick auf ihre Architektur und künstlerische Ausgestaltung ansehen.

Was ist denn ein Beispiel für ein Kunstwerk, das Demokratie lehren soll?
Ich würde sagen, im Westen eigentlich fast alles, was nach 1945 aufgestellt wurde. Natürlich mal expliziter und mal weniger explizit. Also zum Beispiel repräsentieren die ganzen Skulpturen von Uhlmann, so wie ich sie sehe, schon den demokratischen Geist. Gerade in der Auflösung von Materie und Schwere und dieser größeren Dynamik, Offenheit, Leichtigkeit. Also weg von dieser Massivität, die Skulpturen früher meistens so hatten. Und dass es abstrakt war, ist auch ein ganz wichtiger Aspekt. Abstrakte Kunst gab es ja nicht im Dritten Reich, deswegen galt abstrakte Kunst als die Verkörperung von Demokratie schlechthin. Und deswegen wurden hier im Westen hauptsächlich abstrakte Skulpturen sehr stark gefördert. Weil man einfach davon ausging, dass man damit die demokratische Gesinnung stärker visualisieren kann als mit figuralen Skulpturen. Alle Diktaturen arbeiten mit Figurationen. Der beliebte Henry Moore war in den Fünfzigern der annehmbare Kompromiss zwischen Figuration und Abstraktion. Und dann gab es natürlich regionale Kunst wie Matschinsky-Denninghoff oder Nachkriegskünstler zwischen allen Stilen wie Bernhard Heiliger.

Und hat das so einfach geklappt mit der Demokratisierung durch Kunstwerke?
Man muss schon sagen, dass diese Einführung der abstrakten Skulptur nicht so selbstverständlich angenommen wurde, wie einem das heute vorkommt. Das hat damals auch die Volksseele bewegt und wurde in der politischen Szene durchaus kontrovers behandelt. Und es gab auch viele Proteste. Vor allem dann in den Achtziger- und Neunzigerjahren, als die Kunstwerke politischer und provokanter wurden wie etwa die Beton-Cadillacs von Wolf Vostell.

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Gelungene Kunst im öffentlichen Raum: das Holocaust-Mahnmal. Foto: Mathias Rümmler

Wann ist ein Kunstwerk in Ihren Augen denn eines, das im öffentlichen Raum funktioniert?
Das ist eine große Frage. Ich finde, das Holocaust-Mahnmal ist ein großartiges Beispiel für ein gelungenes Werk. Es ist wahnsinnig präsent, aber ist auch partizipativ. Man kann durchgehen, sich draufsetzen, man streitet sich ja auch ständig, ob man jetzt auf den Steinen sein Frühstück einnehmen darf oder nicht. Das ist gerade das Tolle an diesem Mahnmal, dass es eben all diese Fragen aufwirft und man nicht nur davorsteht und hoch glotzen muss. Das halte ich für eine tolle Art, wie man heute öffentliche Skulpturen machen kann. Stephan Balkenhol finde ich gut, „Balanceakt“, dieser Mann auf der Mauer. Weil es lesbar ist. Das ist jetzt kein Werk, bei dem man rätseln muss, sondern es ist ein Bild, das man verstehen kann. Es macht sich nicht unnahbar oder schwer, sondern es hat eine Lesbarkeit für jeden. Was jetzt künstlerisch bedeutender ist, darüber kann man sich streiten. Ich selber sehe es positiv, wenn ein Kunstwerk nicht nur für Kunstexperten ist. Ich bin da relativ unideologisch, weil ich finde, so eine Stadt sollte Platz für viele Facetten haben.

Welche Besonderheiten weist denn der Bezirk Mitte in Bezug auf Kunst im öffentlichen Raum auf? 
Mitte ist der öffentlichste Kiez in Berlin. Die ganze Politik ist hier und die Botschaften und das Brandenburger Tor. Kein Stadtteil hat diese öffentliche Präsenz wie Mitte und das schlägt sich auch in den Kunstwerken nieder. Es gibt nirgendwo so viele Kunstwerke wie in Mitte, auch nirgendwo so unterschiedliche. Alle Facetten und auch die meisten interessanten Skulpturen findet man hier.

Welches von denen ist ihr Favorit – neben dem Holocaust-Mahnmal?
Das ist von Pipilotti Rist in der Schweizer Botschaft. Das ist eine so leichte und offene und wunderbar poetische Arbeit. Da fällt alle zwölf Minuten ein Blatt von der Decke runter, die man dann auch mitnehmen kann. Das ist für mich eine großartige Geste, dass die Skulptur sich so ganz auflöst. Man nimmt ein Blatt mit und damit wandert die Arbeit theoretisch um die ganze Welt. Dann ist ja auch auf jedem Blatt so ein kleiner Text gedruckt. Die Blätter sehen auf der einen Seite aus wie echte Blätter von unterschiedlichen Bäumen und auf der Rückseite steht ein kurzer poetischer Text.

Es gibt in Berlin auch viele Kunstwerke, an denen man vorbeigeht und die man übersieht. Haben die dann nicht ihren Zweck verfehlt?
Eine gute Frage. Deswegen mag ich so Künstler*innen wie Katharina Fritsch, die auf eine starke Bildhaftigkeit setzen und die damit arbeiten, dass das wahrgenommen wird. Aber andererseits sind auch diskrete Kunstwerke wie die von Pipilotti Rist auch hervorragende Kunstwerke, die vom Konzept her ganz anders funktionieren. Dafür ist ja das Buch jetzt da, dass man eben auch solche Werke wahrnimmt und diese stilleren oder konzeptuelleren Positionen ins Bewusstsein bring. Nun kann man aber auch sagen, dass solch stille Werke für den öffentlichen Raum nicht geeignet sind. Aber in der großen Fülle, die Berlin bietet, sind diese konzeptuelleren  Werke in meinen Augen auch eine weitere, wichtige Facette, da sie sehr viel Überraschendes und Neues bieten.

Das Buch “Marmor für alle – Zur Kunst im öffentlichen Raum” ist im Mitte/Rand-Verlag erschienen.

 

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