Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Reihe Kunst im öffentlichen Raum: der Gedenkort Tiergartenstraße 4

26.05.2020
Die markante blaue Scheibe des Erinnerungsortes Tiergartenstraße 4, Foto: Anna-Lena Wenzel

In einer Villa in der Tiergartenstraße 4 befand sich ab April 1940 die Planungszentrale für die „Euthanasie“-Verbrechen der NS-Zeit, die unter dem Namen „Aktion 4“ bekannt wurden. Seit 1988 gab es verschiedene Interventionen und Installationen, die an das Verbrechen erinnern, bis 2014 ein neuer Gedenk- und Informationsort eingeweiht wurde.

Erinnerungskultur im Widerstreit

Über 70.000 Menschen wurden in sechs Tötungsanstalten mit Gas vernichtet, andere starben an Mangelernährung. „Die ‚Aktion T4’vollführt den Schritt von der Ausgrenzung zur systematischen Tötung arbeitsunfähiger, pflegeaufwendiger und ‚störender‘ Anstaltspatienten“, heißt es in einem Infotext vor Ort. Wie kann an dieses Unheil erinnert und zugleich gemahnt werden? Bevor es um den konkreten Gedenkort geht, soll aus dem Manuskript eines Theaterstückes zitiert werden. Im Ballhaus Ost feierte das Stück Frauen der Unterwelt. Sieben hysterische Akte von Tine Rahel Völcker im Dezember 2019 Premiere. Es geht darin um Frauen, die während der NS-Zeit in der Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein vergast wurden – die Entscheidungen, welche Personen systematisch ermordet werden sollte, wurden zum Teil in der Tiergartenstraße 4 in Berlin getroffen.

„Berlin Tiergartenstraße. Die Gutachter Rot und Blau im Arztkittel am Schreibtisch.

GUTACHTER ROT: Nächste bitte. GUTACHTER BLAU: Johanna S. aus Dresden. Eine Geschäftsfrau, die sieht tüchtig aus. GUTACHTER ROT (müde): Und, die Diagnose? GUTACHTER BLAU: Schizophrenie. GUTACHTER ROT: Na sehen Sie. Gutachter Rot zeichnet ein rotes Pluszeichen links unten auf den Papierbogen / auf die starr vor Schreck stehende Johanna, das heißt: zur Tötung freigegeben. Stempel. GUTACHTER ROT (sieht den anderen Gutachter an): Haben Sie was gesagt? Der andere schweigt.

CHOR DER ANGEHÖRIGEN (liest): In trauriger Pflichterfüllung müssen wir Ihnen zu unserm Bedauern mitteilen, dass Ihre Tochter, die auf ministerielle Anordnung gemäß Weisung des Reichsverteidigungskommissars, aus mit der Reichsverteidigung im Zusammenhang stehenden Gründen in unsere Anstalt verlegt wurde, am 8. Oktober 1940 an einer Lungenblutung verstorben ist. Eine Benachrichtigung über die Erkrankung unterblieb in dem Bestreben Sie nicht unnötig zu beunruhigen. Die unerwartet eingetretene Verschlimmerung hat zwar unsere Annahme nicht bestätigt, aber Ihrer Tochter einen sanften und nicht schmerzhaften Tod gebracht und sie von ihrem schweren Erdendasein erlöst. Möge Ihnen diese Tatsache zum Troste gereichen. Hartheim bei Linz Pause An diesem Brief ist nichts wahr sie starb nicht an Lungenblutung sondern an Erstickung durch Kohlenmonoxidgas sie starb nicht in Hartheim bei Linz, sondern auf dem Sonnenstein in Pirna die Urkunden wurden gefälscht damit wir nicht an den Ort des Verbrechens fahren und eine Lüge nach der andern entdecken. Meine Mutter wurde ermordet in Hitlers Namen und mein Bruder schwor fast zur gleichen Zeit einen Eid auf den Führer. Er schwor Treue bis in den Tod. Für sein Vaterland. Und er hielt sein Versprechen, starb den Soldatentod zwei Jahre nach ihr Er starb für das Vaterland, das seine Mutter vergast hat. Und selbst das hat er nie erfahren. Der totale Krieg: das war der totale Verlust meiner Familie.“ [1]

Diese emotionale und exemplarische Erzählung der Johanna S. macht die Wucht und die Willkür der Entscheidungen deutlich, die an diesem Ort getroffen wurden. Wie aber kann an diese Verbrechen im öffentlichen Raum erinnert und gemahnt werden?

Die Publizistin und Denkmalexpertin Stefanie Endlich weist in einem Text über die T4 darauf hin, dass erst 1987 eine erste Dokumentationsausstellung am historischen Ort stattfand, organisiert von einer Gruppe: Die Initiative „Mobiles Museum“, die von der Berliner Geschichtswerkstatt betreut wurde, lenkte die Aufmerksamkeit auf das Thema, doch hatte sie mit ihrem Vorschlag einen Denkmalwettbewerb durchzuführen keinen Erfolg beim Berliner Senat.[2] Dieser entschloss sich stattdessen 1988 eine Skulptur des Künstlers Richard Serra aufzustellen, die dieser zuvor in einer Ausstellung vor dem Martin-Gropius-Bau gezeigt hatte und die keinerlei Bezüge zum Thema aufwies. Laut Jörg Johnen wählte sich der Künstler diesen Platz aus, weil er begeistert war von der Architektur Scharouns. „Es gehört zur Idee des Werks, dass man zwischen den gekrümmten Platten hindurchgeht und dabei Weite und Enge, Schwere und (scheinbare) Bedrohung unmittelbar erlebt.“ [3]

Weil die Wirkung der Skulptur zwar monumental, aber wenig spezifisch ist, wird ihr eine Gedenktafel zur Seite gestellt, oder besser: gelegt, denn die Platte wird in den Boden eingelassen. Darauf heißt es unter anderem:

„Ehre den / vergessenen / Opfern

Von 1939 bis 1945 wurden fast 200.000 wehrlose Menschen umgebracht. Ihr Leben wurde als „lebensunwert“ bezeichnet, ihre Ermordung hieß „Euthanasie“. Sie starben in den Gaskammern von Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Pirna, Bernburg und Hadamar, sie starben durch Exekutionskommandos, durch geplanten Hunger und Gift. Die Täter waren Wissenschaftler, Ärzte, Pfleger, Angehörige der Justiz, der Polizei, der Gesundheits- und Arbeitsverwaltungen. Die Opfer waren arm, verzweifelt, aufsässig oder hilfsbedürftig. Sie kamen aus psychiatrischen Kliniken und Kinderkrankenhäusern, aus Altenheimen und Fürsorgeanstalten und Lazaretten, aus Lagern.

Die Zahl der Opfer ist groß, gering die Zahl der verurteilten Täter.“

Der Text stammt von dem Historiker Götz Aly, der bereits bei der Aktion „Mobiles Museum“ dabei war und ein Begleitbuch zum Thema herausgegeben hatte. Doch die Lösung wird als nicht befriedigend empfunden. „Im Jahr 2007 bildet sich unter dem organisatorischen Dach der Stiftung Topographie des Terrors deshalb der Runde Tisch T 4, ein Zusammenschluss von verschiedenen Gruppen, Verbänden, Verwaltungsvertretern und engagierten Einzelpersonen“, berichtet Stefanie Endlich. [4] Eine direkte Reaktion folgt im selben Jahr vom Künstler Ronnie Golz, der zwei Glasplatten mit Fotos und Infotexten in zwei zu diesem Zeitpunkt noch am Ort stehenden Bushaltestellen aufhängt. Was ihn umtreibt, sind die verharmlosenden Namen der Einrichtungen in der Planungszentrale: Sie hießen „‚Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten‘ und ‚Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege‘“, schreibt er auf seiner Webseite, und fährt fort: Doch „in Wirklichkeit handelte es sich um Tarnnamen für die ‚Vernichtung lebensunwerten Lebens‘, um Euthanasie, die von den Nationalsozialisten ‚Aktion T4‘ genannt wurde.“ [5] Im Juni 2008 wird zudem eine Informationstafel am Rand des Gehwegs aufgestellt, auf der mit Hilfe von historischen Fotos über die Funktion der Villa während der NS-Zeit informiert wird. Im letzten Satz wird darauf hingewiesen, dass die Tafel „einer künstlerischen Gestaltung eines Informations- und Gedenkortes vorausgeht.“ Bis der dazu nötige Bundestagsbeschluss abgesegnet wird, vergehen weitere drei Jahre; bis das Denkmal 2014 eingeweiht wird, sechs Jahre.

Wenn man den Platz heute betritt, fällt vor allem eine türkisblaue, transparente Wand auf. Sie ist eines von mehreren Gestaltungselementen des Gedenk und Informationsortes für die Opfer der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Morde, wie es offiziell heißt. Die Wand wird von einer langgezogenen, schlichten Beton-Sitzbank auf der einen und einem Informationspult mit Texten, Fotos und Video- und Audio-Angeboten auf der anderen Seite gerahmt. Auch der Boden ist gestaltet (er besteht aus rechteckigen Betonpflastersteinen und fällt zur Wand von beiden Seiten leicht ab), so dass er sich vom Bürgersteig abhebt.

In Anbetracht dieses mehrteiligen Ensembles versteht man, dass sich die damalige Ausschreibung an ein Team wendete: Zugelassen waren ausschließlich „Arbeitsgemeinschaften unter Federführung von Künstlern und/oder Gestaltern in Zusammenarbeit mit Landschaftsarchitekten“. Die Wettbewerbsgewinner*innen – die Architektin Ursula Wilms, der bildende Künstler Nikolaus Koliusis und der Landschaftsarchitekt Heinz W. Hallmann – entwickelten also gemeinsam diesen Entwurf, der sowohl abstrakt als auch aufklärend ist und der Vermittlung von Information einen großen Stellenwert beimisst – im Vergleich zu den anderen Gedenkorten, die sich in unmittelbarer Nähe befinden, wie das Holocaust-Mahnmal und die Gedenkorte für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen und Sinti und Roma, die ohne Informationen auskommen, bzw. diese in einem unterirdisches Infocenter präsentieren.

Stefanie Endlich spricht „von großen typologischen Unterschieden, sowohl unter ästhetisch-stilistischen Aspekten als auch hinsichtlich der Formen des Erinnerns und Gedenkens in Bezug auf diese nationalen Erinnerungsstätten“[6], die alle durch Bundestagsbeschluss entstanden sind und aus Mitteln des Staates finanziert wurden. Sie führt aus, dass es mittlerweile eine „Konkurrenz zwischen bildender Kunst auf der einen Seite und Architektur, Gestaltung, Design auf der anderen“ speziell bei Erinnerungsprojekten gäbe, was man anhand des Ensembles aus alten und neuen Denkmälern in der Tiergartenstraße 4 exemplarisch nachvollziehen kann. Setzt man auf eine räumlich-ästhetische Wirkung kann es sein, dass die Ausmaße und die Komplexität der historischen Ereignisse nicht gänzlich erfasst werden, setzt man auf Information kann es sein, dass die emotionale Komponente in Form einer Irritation und Verstörung auf der Strecke bleibt. Bei dem Gedenkort in der Tiergartenstraße 4 ist eine zweigleisige Lösung gewählt worden, die sich stilistisch gut ergänzt. Sie versäumt es jedoch, den konkreten Bezug zur Villa, diesem Ort der Täter, die sich eben hier befunden hat, expliziter zu nutzen. Denn im Ensemble der nationalen Erinnerungsstätten befindet sich keine andere an einem Ort, dessen Geschichte unmittelbar mit dem Thema verbunden ist.

Steht man vor dem Infopult und schaut sich die Fotos der Villa an, fragt man sich, ob die Positionierung der Wand etwas mit der historischen Lage zu tun hat und wofür die blaue Farbe stehen könnte. Antworten darauf gibt es keine, aber eine Vielzahl von Informationen über die Euthanasie-Morde – angefangen bei der Rolle der Planungszentrale, den Orten, an die die Opfer gebracht wurden, was dort mit ihnen passierte bis hin zur Verurteilung (oder auch Nicht-Verurteilung) der Täter. Anhand einzelner Biografien wird die Vielfalt der Euthanasie-Verbrechen deutlich. Ein Beispiel: „Ilsze Lekschas. Seit 1925 musste sie immer wieder zum Arzt. Sie dachte nur noch über Religion nach. Die Gedanken machten ihr Angst. Am Anfand vom Krieg brachte man sie in das Durchgangs-Lager Soldau. Dort wurde sie 1940 ermordet. In einem Gas-Wagen.“ Alle Texte sind – wie dieser auch – in Leichte Sprache und ins Englische sowie in Braille-Schrift übersetzt. Barrierefreiheit war von Anfang an Teil des Konzepts, ebenso wie eine vertiefte Aufarbeitung des Themas auf der Webseite www.gedenkort-t4.eu/de. Hier wird noch mal ein anderer Umgang mit dem Thema deutlich, denn hier öffnet sich das Projekt und wird partizipativ: „Nehmen Sie teil und arbeiten Sie mit, damit an Menschen, die den NS-‚Euthanasie‘-Verbrechen der Nationalsozialisten zum Opfer fielen, erinnert werden kann.“

[1] Tine Rahel Völcker: Frauen der Unterwelt. Sieben hysterische Akte, rua. Kooperative für Text und Regie, Berlin 2019, S. 60f.
[2] Stefanie Endlich: Gedenk- und Informationsort Tiergartenstraße 4, in: Gedenkstättenrundbrief Nr. 179, 2013, S. 30-38, hier: S. 32.
[3] Jörg Johnen (Hg.): Marmor für alle. Zur Kunst im öffentlichen Raum in Berlin, Berlin 2018, S. 129.
[4] Endlich, 2013, S. 33f.
[5] http://www.rgolz.de/d-action-t4.html, abgerufen am 14.5.2020
[6] Stefanie Endlich: Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde in: Gedenkstättenrundbrief N. 176, 2014, S. 10-21, hier: S. 18.

 

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