Ein Vormittag im März, die ersten Arbeitsplätze sind besetzt, eine Besucherin hat im Innenhof in der Sonne Platz genommen, zwei weitere kommen und schauen sich die modernistische 1950er-Jahre-Architektur an. Im Veranstaltungsraum begrüßt die Kuratorin Susanne Weiß die Gäste und stellt die Künstlerin Sonya Schönberger vor. Sie hat ihr neues Buch Sturm of Love – Brüche dabei, das Gespräche mit Menschen enthält, die von Brüchen in ihren Beziehungen erzählen, und liest daraus vor. Die Verlegerin Susanne Bürner vom Monroe Verlag ist auch dabei und hat einen kleinen Büchertisch aufgebaut. Die eindringlichen Berichte, deren gesprochene Sprache Schönberger in ihrem Buch erhalten hat, führen zu einer angeregten Diskussion zum Beispiel darüber, wie repräsentativ die ausgewählten Trennungen sind und was für Beziehungsmodelle denkbar sind, die offener und weniger auf die heteronormative Kernfamilie ausgerichtet sind.
Während sich die Diskussion im Innenhof in ungezwungener Atmosphäre fortsetzt, wird der Veranstaltungsraum rasch umgebaut. Am Abend wird es einen Stummfilmabend mit Live-Musik geben, wofür die Stühle in den Eingangsbereich gebracht werden und der Veranstaltungsraum wieder zu einem Arbeitsraum wird, in den sich – kaum sind die Tische wieder aufgestellt – sofort ein paar Jugendliche setzen.
Vor der Bibliothek auf dem Hansaplatz treffen sich derweil die ersten Interessenten für den Hula-Hoop Kurs mit Scarlett Flamingo. In der Ankündigung heißt es: „Der Hula-Reifen ist nicht nur nettes Spieldingens für Kinder, sondern ein ernstzunehmendes Fitness-Tool.“ Vorher hatte bereits ein Outdoor Fitnesstraining, auch Bootcamp genannt, auf dem Platz stattgefunden, eine „Art Zirkeltraining, bei dem der Körper als Einheit trainiert und durch funktionelle Übungen auch die Tiefenmuskulatur gestärkt [wird].“ [1]
Elke Falat ist Projektleiterin von Offen für Kultur, das sie gemeinsam mit Kristin Reinhardt und Annette Wolter von der Kommunikationsagentur georg + georg kuratiert und durchführt. Sie erläutert, dass Offen für Kultur auf die Idee zurückgeht, Bibliotheken als sogenannten dritten Ort, das heißt als einen Ort der Begegnung, des Lernens und der Inspiration, als einen Ort sozialer, kultureller und digitaler Teilhabe, stärker in den Fokus zu rücken. Dadurch dass Offen für Kultur die Öffnungszeiten erweitert und das bestehende Programm zum Beispiel um Bewegungsangebote ergänzt, verlagert sich die Wahrnehmung der Bibliothek, sie wird stärker zu einem Begegnungsort, der nicht nur vermittelt, sondern auch aktiviert.
Das Sonntagsangebot ist zunächst auf ein Jahr befristet, weil es durch projektbezogene EU-Mittel finanziert wird, aber Falat ist optimistisch, dass es weitergeht, weil die Angebote gut angenommen würden und es schade wäre, jetzt, wo sich das Programm nach den ganzen Anfangshürden herumgesprochen und etabliert hat, wieder aufzuhören.
Die Idee, die Bibliotheken sonntags als Begegnungsorte zu öffnen, wurde erstmals in der Amerika-Gedenk-Bibliothek erprobt, wo das Team vom Sonntagsbureau von 2017 bis 2020 jeden Sonntag Programm machte. Der Hintergrund für diese Konstruktion ist folgender: Da die Bibliotheken aus arbeitsrechtlichen Gründen sonntags nicht geöffnet haben dürfen, wird das reguläre Angebot durch ein Veranstaltungsprogramm ersetzt bzw. ergänzt, das nicht von Bibliotheksmitarbeitenden, sondern von Freiberufler*innen organisiert und betreut wird.
Dass Elke Falat für das Programm zuständig ist, hat auch damit zu tun, dass sie die Hansa-Bibliothek noch aus ihrer Tätigkeit als künstlerische Projektleitung der ersten Ausgabe von Kunst im Stadtraum (KISR), das 2018-2020 am Hansaplatz stattfand, kennt. Damals wurden bei einem Wettbewerb fünf Künstler*innen eingeladen, Arbeiten für den Ort zu entwickeln, die ab Frühjahr 2019 realisiert wurden. Falat war nicht nur für die Koordination und Betreuung der künstlerischen Interventionen zuständig, sondern auch für die Beteiligungsformate, die explizit Teil des Gesamtvorhabens waren. So wurde von Anfang an das Gespräch mit den Anwohnenden, Interessierten und Kooperationspartner*innen gesucht und öffentliche Foren initiiert, die das Ziel hatten, über das Projekt zu informieren und die Nachbarschaft einzubeziehen.
Die Hansabibliothek war schon damals einer der Kooperationspartner (obwohl sie zu der Zeit restauriert wurde). So hat unter anderem die Künstlerin Folke Köbberling auf der Wiese vor der Bibliothek das Projekt Nachbarn auf Zeit realisiert, für das sie für einen Monat fünf Schafe angesiedelt hat, die von Anwohnenden betreut wurden. Wie sieht die Stadt von morgen angesichts von Klimawandel und grassierendem Artensterben aus?, ist die Frage, die Köbberling mit ihrer Arbeit in den Raum stellte. Sie ist eine Konkretisierung der allgemeineren Frage „Wie wollen wir leben?“, die der Programmgestaltung von Offen für Kultur nun zu Grunde liegt. Diese wiederum lässt sich als eine Aktualisierung des Mottos „Die Stadt von morgen“ der Interbau von 1957 verstehen, in deren Rahmen das Hansaviertel und die Bibliothek errichtet wurden.
Wie sehr das Motto Offen für alle mit dem Architekturkonzept von Werner Düttmann korrespondiert, belegt dieses Zitat von Katrina Schulz aus einem Text zum 100-jährigen Geburtstags Düttmanns im Jahr 2021, der auch in der Hansabibliothek mit einer Ausstellung gewürdigt wurde:
Sein „Bibliotheksbau vermittelt keine Ehrfurcht, er stellt die Kultur nicht auf einen Sockel. Vielmehr prägt ein demokratisches Selbstverständnis Düttmanns Entwurf. […] Düttmann schuf einen eingeschossigen quadratischen Bibliotheksbau, der fast vollständig einen Gartenhof umschließt. An einer Ecke ist die vierflügelige Anlage offen, hier bildet ein Wasserbecken die Barriere nach außen und erlaubt gleichzeitig Einblick in den begrünten Innenhof. Ein überdachter Gang verbindet das Haus mit dem unmittelbar danebenliegenden U-Bahnhof Hansaplatz.“ [2]
Sitzt man im Veranstaltungsraum und schaut durch die hohen Fenster in den begrünten Innenhof oder die umliegende Architektur, versteht man sofort, was damit gemeint ist. Mit seinem vielfältigen Programm versucht das Team von Offen für Kultur eben dieses Selbstverständnis zu aktualisieren.
[1] https://www.berlin.de/stadtbibliothek-mitte/bibliotheken/hansabibliothek/offen-fuer-kultur/programm/
[2] https://wernerduettmann.de/karte/hansabuecherei-und-u-bahnhof
Das Programm „Offen für Kultur“ wird jeweils sonntags ab 11 Uhr in der Hansa-Bibliothek (Altonaer Str. 15, 10557) Berlin angeboten. Aktuelle Informationen zum Programm finden sich hier: https://www.berlin.de/stadtbibliothek-mitte/bibliotheken/hansabibliothek/offen-fuer-kultur/programm/
Dr. Anna-Lena Wenzel ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.
www.alwenzel.de