Essay von Katharina Mevissen
Das Plakat braucht den öffentlichen Raum. Schließlich will es gesehen werden, will mitteilen, überzeugen, verführen, einladen, verkaufen. Es spricht, zeigt, schreit – es wettert dagegen oder wirbt dafür.[1] Es reklamiert und visualisiert, es beschwert sich und fordert, fordert Aufmerksamkeit, fordert Fläche, erzeugt Sichtbarkeit. Sobald es angebracht wird, nimmt sich das Plakat öffentlichen Raum, es besetzt einen Platz im Blickfeld und tritt in Dialog und Konfrontation mit seiner Umgebung. Es eröffnet also einen – zunächst sehr überschaubaren – öffentlichen Kommunikationsraum. Wird ein Plakat aber vervielfältigt und an verschiedenen Orten angeschlagen, vergrößert sich die vernetzte Fläche, die es mit seiner Botschaft beansprucht und der Raum, den es stiftet, mit jedem weiteren Plakat.
So ist das Plakat schon immer ein politisches Medium, eines, das gesellschaftliche Aushandlung auf die Straße trägt: Medium von Wahlkampf, Protest, Mobilmachung, Meinungsbildung, Propaganda und Reklame – von politischer, kultureller und kommerzieller Werbung. Das Plakat ist kein Buch: Es wird nicht auf-, sondern angeschlagen, und daher als auch Anschlag bezeichnet. Das Plakat ist ein Medium der Straße. Es kann beiläufig betrachtet werden – und kostenlos. Es muss im Vorbeigehen wirksam sein, spricht also nicht in Bänden und nicht nur in Buchstaben: es ist bildhaft und kurzangebunden, einseitig und schnelllebig, es ist schlagfertig und plakativ.
Das Plakat als öffentliches Medium wurde populär, sobald es sich leicht vervielfältigen ließ: Ab der Erfindung der Lithographie Ende des 18. Jahrhunderts verbreitete es sich rasch und wurde zunächst an Hauswänden angebracht. Das wilde Plakatieren (so wie eigentlich jede Form der eigenmächtigen, unangemeldeten Inanspruchnahme des öffentlichen Raums) wurde damals wie heute nicht gebilligt, also schuf man dem Plakat einen regulären Platz in der Öffentlichkeit: die Plakatsäule. Verschiedene Modelle wurden Mitte des 19. Jahrhunderts konzipiert, in Berlin setzte sich die Litfaßsäule durch, entworfen von Ernst Litfaß. Die erste von ihnen wurde 1855 an der Münzstraße in Berlin Mitte errichtet und festlich eingeweiht. In den Dreißiger Jahren zählte man allein in Berlin bereits 3.000 Litfaßsäulen, und bis vor zwei Jahren waren es noch immer 2.548, obwohl längst zeitgenössischere Reklameträger das Bild dominierten. Denn im Jahr 2019 erfolgte der Abriss nahezu aller Berliner Litfaßsäulen – nur 24 von ihnen ließen sich nicht aus dem Weg räumen: Sie wurden unter Denkmalschutz gestellt, und stehen nun, befreit von ihrer kommerziellen Nutzung, etwas unentschlossen im Stadtraum. Wirken wie Relikte vergangener öffentlicher Kommunikation. Aber warum eigentlich vergangen? Sobald eine Litfaßsäule wieder plakatiert wird, ist sie zurück in der Gegenwart und wirkt in den urbanen Raum hinein. Zweifellos ohne Effekte, ohne Illumination, ohne digitale Technik – zurückhaltend, wenn nicht so gar harmlos, wenn man sie mit den invasiven Mitteln der modernen Reklametechnik vergleicht.[2] Die Lücken unseres urbanen Blickfelds sind inzwischen nachverdichtet worden: im Sekundentakt werden Werbeträger mit wechselnden bewegten oder digitalen Plakaten bespielt. Sie flimmern in Bahnhöfen, in U-Bahnen, in Wartezimmern, an Haltestellen, und schlagen Kapital aus dem öffentlichen visuellen Raum. Ganz ähnlich werden die Baulücken der Stadt erschlossen und Freiflächen mit katalogkonformen Neubauten versiegelt. Sie vereinheitlichen dabei nicht nur das architektonische Stadtbild, sondern auch die ansässige Bevölkerung, die durch die steigenden Miet- und Immobilienpreise an die Ränder verdrängt wird. Wer bleibt, hat Geld – und gleicht sich immer mehr. So wird auch das soziale Stadtbild monoton – und die Diversität unserer Gesellschaft unsichtbar gemacht.
Dabei ist, anders als zu Hochzeiten der Litfaßsäule, jedoch nicht nur der öffentliche, sondern auch der private visuelle Raum erschlossen: Der Besuch der digitalen Öffentlichkeit und Konsumwelt ist mit aggressiver und subtiler Werbung versehen – nur, dass unsere Sehgewohnheiten und unser Nutzungsverhalten dort viel effizienter und personalisierter ausgewertet werden können als im analogen Draußen. Dabei sind all diese analogen und digitalen Kommunikationsflächen weitgehend kommerzialisiert und dominieren die visuellen Räume, die eigentlich Gemeingut sind. Reklame beansprucht aber nicht nur Platz im Stadtbild, sondern auch in unserer Wahrnehmung. Dabei reproduziert Werbung häufig eine sexistische, diskriminierende Bildsprache, die ganz sicher keinen kritischen Bildungsauftrag erfüllt. Sie preist eine Produktwelt der Einheitlichkeit und Konformität, sie wirbt für die herrschenden Normen und für zweifelhafte Ideale.
Die nun über 150 Jahre alte Litfaßsäule stellt sich da inzwischen allein in ihrer Ortstreue, Unbeweglichkeit und Langlebigkeit gegen den Strom der Zeit und Zeichen. Als zylindrischer Körper, der den Menschen bis heute überragt, stiftet sie einen Ort und eine Fläche im Stadtbild, und ist wohl bis heute nicht völlig ungefährlich. Eine Litfaßsäule ist letztlich immer so gefährlich wie die Plakate, die an ihr angebracht werden. Dass die verbliebenen Säulen als Orte kultureller und gesellschaftlicher Kommunikation wiederbelebt und wirksam gemacht werden können, zeigt die Aktion Litfaß Goes Urban Art, die seit Herbst 2019 eine Reihe der verwaisten Säulen künstlerisch bespielt. Dabei ist die pensionierte Litfaßsäule nur eine von vielen potenziell kommunikativen Flächen, die von unkommerzieller und vielfältiger Kommunikation erschlossen werden können.
Eine der Berliner Litfaßsäulen steht am Hackeschen Markt. Sie haben wir mit dem Plakat Vervielfältigen bitte! bestückt, das auf Zuruf () per Post bezogen werden kann. Wir wollen dazu einladen, die Litfaßsäule zu besuchen, falls der Weg nicht zu weit ist. Und wir wollen dazu aufrufen, selbst auf die Suche nach weiteren öffentlichen Flächen zu gehen und sie zu besetzen – zum Beispiel mit diesem Plakat, das dafür vervielfältigt und verbreitet werden darf. Es kann Werbeflächen überkleben und Neubaugebiete zensieren. Es kann Orte der Konformität überschreiben und kommentieren. Es kann auch sagen: diese Idee gefällt mir, sie ist wichtig. Es kann Orte markieren, die es sich zu vermehren lohnt und die schützenswert sind. Es kann städtischen und ländlichen Raum reklamieren und einen neuen visuellen Raum eröffnen, wo immer es aufgehängt wird – gerade jetzt, in den Zeiten der geschlossenen Gesellschaft.
Schließlich ist mit Vervielfältigen bitte! nicht nur das Kopierverfahren gemeint, sondern auch ein Programm: sie meint auch die radikale Vielfalt,[3] die Pluralität der Gesellschaft, in der wir längst leben – und die dennoch weiterhin um öffentliche Räume und Sichtbarkeit kämpfen muss.[4] Eine Vielfalt, die unsere Gesellschaft vor (deutscher) Einheit und Einheitlichkeit schützt. Eine kulturelle, sprachliche und sexuelle Vielfalt, die keiner Kopiervorlage, sondern im besten Sinne der Vervielfältigung bedarf – mit Hilfe aller in die Jahre gekommenen und zeitgenössischen visuellen Medien.
1, 2 Vittorio Magnano Lampugnani, Bedeutsame Belanglosigkeiten. Kleine Dinge im Stadtraum,
Wagenbach 2019.
3 Max Czollek, Gegenwartsbewältigung, Hanser 2020.
4 Carolin Emcke, Gegen den Hass, Fischer 2016.
Katharina Mevissen ist Autorin und lebt in Berlin. Sie hat Kulturwissenschaft und Transnationale Literaturwissenschaft studiert. Ihr Romandebüt Ich kann dich hören ist 2019 bei Wagenbach erschienen. Zuletzt erhielt sie das Arbeitsstipendium 2021 der Stadt Berlin.
Simon Wahlers ist Grafiker. Seine Arbeiten für Kulturinstitutionen und engagierte Initiativen verbinden Gestaltung mit gesellschaftlicher Verantwortung. Er ist Mit-Herausgeber von Freiraum vertikal denken und lehrt im Fachbereich Kommunikationsdesign an der HAW Hamburg.
Vervielfältigen bitte ist die zwölfte Ausgabe der Krisenbriefe, einem Format für Kultur, Protest und Gemeinschaft in der Krise, das seit März 2020 monatlich erscheint. Auf Papier und per Post. Herausgegeben von Katharina Mevissen und Simon Wahlers.