Frauke Boggasch

Vorfrühlingshafte Berlinale – ein Programm mit Höhen und Tiefen

12.02.2019
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Frauke Boggasch zu Besuch auf der Berlinale

Immer, wenn ich an den dünnen, asiatisch anmutenden Gräsern zwischen den Wasserflächen am südlichen Ende des Potsdamer Platzes vorbeilaufe, weiß ich: es ist wieder soweit! Berlinalezeit!

Dieser kleine Wassergarten, teilweise von einem Bürohochhaus überbaut, ist irgendwie typisch für die Gestaltung des gesamten Potsdamer Platzes: eher unerwartet taucht zwischen den Gebäudekomplexen eine Leerstelle auf, ein kleiner Durchgang, ein Wasserspiel, eine koreanische Pagode (der ungenehmigte „Einheitspavillon“) oder ein von land art beeinflusstes Rasenstück aka Tilla-Durieux-Park.

Das asiatisch anmutende urban gardening project am südlichen Ende des Potsdamer Platzes, Foto: Frauke Boggasch

Die Berlinale beginnt für mich im zugigen Erdgeschoss des Berliner Atrium Tower in der Eichhornstraße 3 – dem Ort, an dem Akkreditierte ihre Tickets erhalten und sich zudem einige weitere Servicepunkte für die Berlinale befinden. Beim Warten auf die Tickets erinnere ich mich daran, dass die israelische Co-working-Firma wework im vergangenen Jahr in diesem Büroturm gleich vierzehn Etagen angemietet hat: einen hot desk, den günstigsten flexiblen Arbeitsplatz im Turm, gibt es ab 380 Euro pro Monat, Kaffee inklusive. Sind das erste Anzeichen für eine weitere Veränderung des Platzes, diesmal in Richtung hipness?

Eine konkrete Veränderung erfahre ich, als ich wieder im kleinen und unaufgeregten Coffee Shop in der Potsdamer Straße einen Kaffee trinken will: seit Dezember ist aus dem jahrelangen Lieblingstreffpunkt vieler Festivalbesucher die neue Filiale der noblen Kaffeekette The Barn geworden.

Durch die Berlinale ist mir in all den Jahren dieses so gar nicht gelungene und nach wie vor wie aus Bauklötzen zufällig zusammengestückelte Ensemble des Potsdamer Platz ans Herz gewachsen. (Gleiches gilt für die Gegend um das CineStar CUBIX am Alexanderplatz, das ebenfalls ein Festivalkino ist: auch dort hat sich in den letzten Jahren sehr viel verändert – Städtebaulich leider nicht zum Positiven. So blickt man beim Verlassen des CUBIX mittlerweile auf einen schwarzen Koloß, ebenfalls ein Einkaufszentrum, welches den einstmals freien Blick auf Fernsehturm und angrenzende Freiflächen bis hin zum Neptunbrunnen verstellt)

Die Zeit, die man während dieser zehn Filmtage an und um diese beiden Plätze herum verbringt, bietet ungeahnte Möglichkeiten der Stadt-Entdeckung, es ist fast wie im Film: Identifikation mit dem stolzen Verlierer, der vielleicht doch noch eine Chance bekommt: im Kollhoff-Tower am Potsdamer Platz 1 versöhnt der großartige Blick aus den fast bodentiefen Fenstern des Panoramacafés im 25. Stock mit allerlei baulichen Sünden des Platzes.

Blick aus dem Panoramacafé im 25. Stock des Kollhoff Towers Richtung Berlinale Palast, Foto: Frauke Boggasch

Und die 69. Berlinale, die letzte unter der Leitung von Dieter Kosslick?

Tja. Der erste Eindruck ist eher so lala. Mittelmäßig. Oder unentschlossen. Irgendwie ist die Luft raus nach der Berlinale 2018, bei der u.a. von Lav Diaz, Hu Bo und Ursula Meier großartige und teilweise mehrstündige Entdeckungen möglich waren.

Das ist deswegen schade, weil der langjährige Leiter Kosslick gerade in diesem umso befreiter aufspielen hätte können – das Berlinalepublikum wäre wie immer mitgegangen!

Nach einem schlechten Kinojahr 2018 in Deutschland, für das die Schuld neben einem unendlichen Sommer und diversen Fußballgroßveranstaltungen auch bei den neuen Serien gesucht wird, soll mit dem „weltweit größten Publikumsfestival“ Berlinale nochmals eine große Zahl an Menschen in die Kinos gelockt werden. Das ist an sich ja erst einmal positiv. Bleibt nur die Frage, was das Publikum denn sehen will. Und für wen es eigentlich steht, dieses „Publikum“?

Denn auch diese Erfahrung habe ich in all den Jahren gemacht: egal, was gezeigt wird, das Publikum lässt sich begeistern. So auch an diesem ersten Samstag bei der Weltpremiere von 37 Seconds in der Sektion Panorama. Ein Film der japanischen Regisseurin HIKARI über die Mangazeichnerin Yuma, eine junge Frau, die genau wegen dieser 37 Sekunden ohne Sauerstoff bei der Geburt mit Zerebralparese im Rollstuhl sitzt. Die Rolle der Yuma wird von einer hinreißenden Laiendarstellerin gespielt, und als diese wegen eines neuen Manga-Projekts im größten Rotlichtviertel Tokyos versucht, erste sexuelle Erfahrungen zu machen, bleiben skurrile Momente nicht aus. Die unfreiwillige Komik bei ihrem käuflichen Sexdate und der unverkrampfte Umgang der Regisseurin mit Körperlichkeit/Sexualität bei Menschen mit Behinderung wurden vom Publikum mit langem Applaus belohnt.

Wenn ich mir die Auswahl der Wettbewerbsfilme unter dem diesjährigen Motto „Das Private ist politisch“ ansehe, kann ich jedoch nur mit dem Kopf schütteln oder lakonisch feststellen: das Publikum soll bespaßt, bei Laune gehalten und bitte auf gar keinen Fall überfordert werden.

Und erneut zeigt sich, dass dies gar nicht sein muss: Die Empathie des Publikums während der Premiere von Shooting the Mafia, dem neuen Film der Dokumentarfilmerin Kim Longinotto in der Sektion Panorama Dokumente war berührend. Der Film widmet sich dem unkonventionellen Leben der Fotografin Letitia Battaglia, die seit über 40 Jahren die Verbrechen der Mafia in und um Palermo dokumentiert. Ihre Photographien zeigen mehr als genug Gründe, um den Glauben an die Menschlichkeit zu verlieren – doch durch diese besondere Atmosphäre im Kinosaal übertrug sich die Kraft der Bilder als Moment der Hoffnung.

Der Film ist ein Beispiel dafür, dass die interessantesten Arbeiten nicht im Wettbewerb laufen.

Im Berlinale Palast, die Leere zwischen zwei Screenings, Foto: Frauke Boggasch

Eine Entdeckung ist hingegen die Retrospektive „Selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen“. Sie zeigt in über 50 Filmen einen Querschnitt der Arbeiten von Regisseurinnen aus den Jahren 1968 bis 1999. In ihrem Film Sie (DDR, 1970) dokumentiert die Regisseurin Gitta Nickel anhand von Interviews die Lebensrealität der Arbeiterinnen des Textilkombinats Treffmodelle in Berlin zwischen Fabrik und Familie und versucht, die Gleichberechtigung der Frau im Arbeitsalltag sichtbar zu machen. Einen anderen Aspekt dieser Jahre zeigt der Spielfilm Die bleierne Zeit (BRD, 1981) von Margarethe von Trotta: vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der RAF begleitet der Film die unterschiedlichen Lebenswege zweier Schwestern.

Die Hommage samt goldenem Ehrenbären gebührt in diesem Jahr der britisch-französischen Schauspielerin Charlotte Rampling. Unter dem Motto „Figuren in Extremsituationen“ werden bis zum Ende der Berlinale elf Filme aus ihrem langjährigen Schaffen gezeigt, darunter Klassiker wie Il portiere di notte (Der Nachtportier, 1974, Regie: Liliana Cavani) am 13. Februar.

Und im Forum kehrt nach 25 Jahren ein Klassiker zurück an den Ort seiner Uraufführung: Béla Tarrs Opus Magnum Sátántango (1994) wird am 16. Februar in digital restaurierter Fassung und voller Länge nochmals gezeigt.

Just am ersten Berlinale-Sonntag findet in Berlin-Neukölln die Gründungssitzung eines Verbandes statt, der dieser oben beschriebenen Erschöpfung des Films entgegentreten will, dort spricht man gar von einem „Notstand der Filmkultur“. Er trägt den Namen Hauptverband Cinephilie und ist ein Zusammenschluß von bislang 14 Vertreter*innen aus unterschiedlichen Sparten (Festivals, Verleiher*innen, Kinobetreiber*innen, Kritiker*innen und Filmemacher*innen).

Er versteht das Kino (wieder) als Kunst, und nicht als Konsumgut oder Dienstleistung: „Cinephilie ist die Liebe zu einem Kino, das sich zur Gesellschaft verhält und damit politisch ist. Wir glauben an die Mündigkeit und Neugier der Zuschauer*innen. Wir fordern, ihre Bevormundung zu beenden!“1

Der Wunsch nach Veränderung ist spürbar. Es kann also losgehen – die 70. Berlinale beginnt in weniger als einem Jahr.

1 http://www.hvcinephilie.de/2019/01/30/afruf-zur-cinephilie/

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