Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Wilde Mischung und Erinnerungsort par excellence: der Park am Fernsehturm

09.06.2020
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Blick auf die Fernsehturmpavillons, Foto: Kerstin Stoll
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Das Areal Am Fernsehturm um 1945, Zeichnung: Erik Göngrich
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Der Park am Fernsehturm um 1953, Collage: Erik Göngrich

Ein Rundgang über den verkannten Platz, unterhalb des Fernsehturm, der aufgrund seiner permanenten Wandlung typisch für die bewegte Geschichte Berlins ist und ein perfektes Beispiel dafür, wie heterogen an diese im öffentlichen Raum erinnert wird.  

Der Platz um den Fernsehturm herum ist wie eine Wundertüte: Plattenbauten und funkelnd-schwarze Glaspaläste, Backsteingotik und sozialistische Moderne, Brunnenanlagen und ein Volleyballfeld, diverse Denkmäler und ebenso viele Infoschilder. Seine Geschichte ist geprägt durch Umbauten und große Pläne, durch vergrabene Geschichte(n) und historische Wiederentdeckungen. Ein ausgedehnter Gang über den Platz ist also unbedingt empfehlenswert!

Merkwürdigerweise hat der Platz keinen prägnanten Namen: Nirgendwo befindet sich ein Schild und auch auf Stadtplänen oder digitalen Karten findet man keine Hinweise. Doch es gibt eine Bezeichnung: Park am Fernsehturm. Aber warum Park? An anderer Stelle wird der Platz Rathausforum benannt – wie das Humboldt-Forum. Doch das Rathaus ist nur ein Teil eines großflächigen Gefüges und kein Gebäude, das verschiedene Institutionen beherbergt. Seit 2010 ist der Platz zudem großteilig abgesperrt, weil sich hier die Baustelle der Verlängerung der U-Bahnlinie 5 befindet.

Fotos: Anna-Lena Wenzel

Doch lassen Sie sich davon nicht abschrecken, sondern beginnen Sie Ihren Rundgang vor dem imposanten Roten Rathaus an der Ostseite des Platzes. Direkt beim Eingang ist ein Hinweisschild an der Wand befestigt „Erbaut von 1861-1869 nach Plänen von Herrmann F. Waesemann. Bis 1945 Sitz der Stadtverordnetenversammlung und des Oberbürgermeisters. Im 2. Weltkrieg teilweise zerstört. 1951-1956 wieder aufgebaut. Bis 1990 Sitz der Stadtverordnetenversammlung und des Überbürgermeisters von Ost-Berlin. Seit dem 3. Oktober 1991 Sitz des Regierenden Bürgermeisters und der Senatskanzlei.“

Für den Neubau wurde das alte Berliner Rathaus aus dem Mittelalter zusammen mit der gesamten Wohnbebauung des Straßenblocks abgerissen. Teile des Rathauses, wie das erstaunlich gut erhaltene Kellergeschoss, wurden jedoch bei den Bauarbeiten für die Verlängerung der U5 wiederentdeckt und freigelegt und ein Pfeiler wanderte in die große Sammlung von baulichen Überresten des Märkischen Museum. Noch spektakulärer war der sogenannte Berliner Skulpturenfund 2010, bei dem mehrere Kunstwerke wiederentdeckt wurden. Aufgrund ihrer Einordnung als „Entartete Kunst“ wurden sie durch das nationalsozialistische Regime beschlagnahmt und galten lange als verschollen. Werke von Emy Roeder und Otto Freundlich waren unter ihnen, denen die Zeit im Boden zum Teil zwar arg zugesetzt hatte, deren Stellenwert und Geschichte aber dennoch so herausragend waren, dass sie auf Tour durch Museen in ganz Deutschland gingen.

Gegenüber dem Rathaus verläuft ein Bauzaun hinter dem sich die Baustelle der U5 befindet. Auf einem Plakat wird man auf eine überraschende Anekdote aufmerksam gemacht: „Zwischen Alexanderplatz und dem neuen U-Bahnhof Rotes Rathaus verläuft schon seit den 1920er Jahren ein Tunnel. Denn schon vor 100 Jahren gab es den Plan, die U5 bis zum Hauptbahnhof zu verlängern. Es kamen Weltwirtschaftskrise, das dritte Reich und die deutsche Teilung dazwischen, so dass das Tunnelstück in der Zwischenzeit als Aufstell- und Kehranlage für die ‚alte‘ U5 genutzt wurde. Nun wird das Tunnelstück saniert, und das 100 Jahre alte Vorhaben endlich zu Ende gebracht. Länge: 350 m Höhe: 8,90 m Alter: Fast 100 Jahre und gut in Schuss.“ Voraussichtliches Ende der Bauarbeiten: September 2020.

Bis dahin kann man sich die Freilichtausstellung entlang des Bauzauns anschauen, die sich selbst als eine „Urbane Ausstellung entlang ausgewählter U-Bahnhöfe der Linie U5 zwischen Alexanderplatz und Magdalenenstraße“ bezeichnet. Nächster Halt Freiheit? lautet der Titel der Ausstellung, da die U5 als Freiheitslinie vermarktet wird. Texte und Fotos erinnern an historische Ereignisse wie die Revolution von 1848, die Novemberrevolution 1918 und die Proteste am 17.6.1953 und im Oktober/ November 1989.

Unter der Überschrift Rotes Rathaus befindet sich ein Zitat von Günter Schabowski von 2004: „Der Kommunismus wurde von den Menschen, die er zu beglücken vorgab, von der Weltbühne gefegt. Er ist wirtschaftlich gescheitert und hat sozial versagt. Er hat sich als blutige Diktatur erwiesen. Und er war unfähig, sich zu läutern.“

Folgt man der Freilichtausstellung in Richtung Alexanderplatz kommt auf der rechten Seite ein großer Gebäudekomplex, der Wohnungen und im unteren Teil Geschäfte und Restaurants enthält. Hier gibt es: aktiv schuh Markt, BowlingCenter, City Store, Cancún – Cocktailbar und Lounge, Deiters, Decathlon, El Colmado, Netto, Rossmann, das Teehaus am Alex und die Rathaus Passagen. Kommt man aus diesen heraus, steht man geradewegs vor einer Erinnerungstafel an Jonny K. der am 14.10.2012 an diesem Ort verprügelt wurde und an den Folgen verstarb. „Diese Tafel soll stellvertretend an die Opfer erinnern, die Zivilcourage zeigten und dadurch zu Schaden kamen. Sie mahnen uns, nicht wegzuschauen. Wir werden sie nicht vergessen und ihr Andenken in Ehren halten.“

Zwei schwarze Glasneubauklötze trennen den Alexanderplatz vom Park am Fernsehturm: der Cubix Filmpalast und das Wohn- und Geschäftshaus Alea 101 mit Läden wie Vapiano, Superdry, Wellensteyn, Dickies, Jack & Jones, Olymp & Hades.

Direkt daneben steht der Fernsehturm, der als höchstes Bauwerk Deutschlands den ganzen Platz dominiert. Wenn man jedoch direkt davor steht, verschieben sich die Proportionen und die den Turm umgebenden Anbauten rücken in den Blick: die Freitreppen, auf denen gerne Jugendliche abhängen, die charakteristischen Betonfaltdächer, die fast bis zum Boden reichen, und die sogenannten Pavillons, in denen sich das Menschen Museum, die Spielbank Berlin und Souvenirshops befinden. Geht man die Freitreppen hinauf, kann man auf der Veranda, einmal um den Turm herumlaufen.

Von hier weitet sich der Blick und bleibt am Volleyballfeld hängen, das erst mal so gar nicht ins Bild passt. Wer sollte hier Sport machen? Wer kommt hierher um seine Freizeit zu verbringen? Vor allem Jugendliche, die am Alex abhängen oder in der Nachbarschaft leben. Für sie ist auch der JugendAktionsRaum (Jara) gedacht, ein bunt besprühter Baucontainer und zugleich ein offener Treffpunkt für junge Menschen. Eines der Angebote, die hier durchgeführt wurden, ist das Projekt „Mein Kiez, meine Spuren – Audiowerkstatt“ von Julia Illmer und Massimo Maio. Sie haben 2019 mit Jugendlichen Gespräche auf dem Platz geführt und daraus einen Audiowalk entwickelt, den man bei Radio aporee nachhören kann, wenn man dort den Suchbegriff „Asphalt“ eingibt.

In der Nähe des Containers steht der Neptunbrunnen. In der Mitte sitzt der Wassergott Neptun lässig auf einer muschelartigen Platte, in seinem Arm ein Dreizack. Unter ihm und um ihn herum sind weitere türkis- und bronzefarbene Skulpturen – Meerestiere wie Schildkröten, Krokodile, Netze und andere unbestimmte Flossenwesen. Am Rand der Anlage sitzen Frauengestalten, die vier Flüsse symbolisieren sollen (Rhein, Weichsel, Oder, Elbe). Der Brunnen wurde 1888–1891 im Stil des Neobarocks von Reinhold Begas errichtet, stand aber ursprünglich auf dem Schlossplatz. Erst nach dem Abriss des Schlosses 1951 wurde er entfernt und bei der Neugestaltung des Ost-Berliner Stadtzentrums 1969 im Park am Fernsehturm aufgestellt.

Von hier kann man die St. Marienkirche nicht mehr übersehen, die schräg in den Platz hineinragt. Auf den vielen Infoschildern, die um sie herum stehen, kann man die Geschichte der Kirche und des sie umgebenden Marienviertels nachlesen, das sich früher an dieser Stelle befand. Es gibt zudem ein Stadtmodell, das das Marienviertel um 1880 zeigt. „Es dokumentiert seine maximale bauliche Verdichtung. Das mittelalterliche Straßenraster der Berliner Altstadt in ihrer Begrenzung durch Spree und barocke Festungsanlagen ist noch erhalten. Eng um die St. Marienkirche und den Kirchhof herum steht noch die kleinteilige Wohnbebauung wie auch in der Straße An der Königsmauer. Auf zusammengelegten Parzellen sind bereits Großbauten für Verwaltung und Infrastruktur entstanden. Heute sind die dargestellten Gebäude fast alle verschwunden.“

Zur Karl-Liebknecht-Straße hin, steht das Martin-Luther-Denkmal, das wie der Neptunbrunnen eine Migrationsgeschichte hat, denn es war zeitweise verschwunden bzw. nach Weißensee verlagert worden, bis es 1989 zurück in die Grünanlage kam. Auf einem bescheidenen Sockel (im Vergleich zu den historischen Dimensionen der ursprünglichen Anlage) steht dort Martin Luther mit aufrechtem Blick und einer aufgeschlagenen Bibel im Arm. Ein Hinweisschild informiert über die bewegte Geschichte des Denkmals: „Im Zuge der Feierlichkeiten zu seinem 400. Geburtstag entstand im kaiserlichen Berlin der Wunsch nach einem Denkmal für den Reformator. Den Wettbewerb von 1885 gewann der Bildhauer Paul Martin Otto, Robert Toberentz übernahm die Fertigstellung des Denkmals. Die Kosten teilten sich private Spender, der Magistrat und Wilhelm I. Hier auf dem Neuen Markt entstand ein 250 m2 großes und 8,20 Meter hohes Reformationsdenkmal. Es wurde 1895 eingeweiht.“ Es war eine imposante, bühnenartige Gesamtanlage inkl. Nebenfiguren, die im Zweiten Weltkrieg eingeschmolzen wurden. 1951 versetzte man die Luther-Statue „in die Turmhalle der St. Marienkirche, 1968 nach Weißensee. Zur 450-Jahrfeier der Reformation in Brandenburg kehrte die Plastik im Oktober 1989 in die Grünanlage, nahe dem Ort ihrer Erstaufstellung, zurück. Dort blieb sie bis zur Neugestaltung des Umfeldes der Kirche, um danach am historischen Standort wieder aufgestellt zu werden.“

Ein Stück weiter zur Spandauer Straße hin sind in regelmäßigen Abständen mehrere dunkle Rechtecke in den Boden eingelassen, auf einer Platte steht: „In diesem Hause lebte und wirkte unsterbliches Moses Modelsohn geb. in Dessau 1729 gest. in Berlin 1786“. Es ist der Text der Gedenktafel, die 1829 am Haus angebracht war, in dem der Gelehrte gelebt hat. Der israelische Künstler Micha Ullmann hat die Fassade des Hauses auf den Boden gelegt, Fenster und Türen markiert und damit ein Denkmal geschaffen, das 2016 eingeweiht wurde.

Ein Stück weiter steht am Rande einer Grünfläche eine Infotafel, auf der man mehr über Moses Mendelssohn erfahren kann. Es wurde 2015 aufgestellt und von der Mendelsohn Gesellschaft e.V. initiiert: „An diesem Ort stand das Haus Spandauer Straße 68, in dem von 1762 bis 1786 der große jüdische Gelehrte Moses Mendelssohn zusammen mit seiner Familie gewohnt hat. Mendelsohn hätte das Haus gerne erworben, aber Hausbesitz war den meisten Berliner Juden damals verwehrt. Er starb 1786 hochgeehrt als berühmtester Aufklärer und Pionier des modernen Judentums. Zum hundertsten Geburtstag 1829 wurde am Haus eine Marmortafel angebracht: die erste öffentliche Ehrung eines Bürgerlichen in Berlin. Das Haus wurde 1887 abgebrochen und das Grundstück neu bebaut. Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wurde das Grundstück in die Freifläche vor dem Fernsehturm einbezogen.“

Überquert man die Spandauer Straße und geht durch den Park zur Spree kommt man zu einer mehrteiligen Denkmalanlage, dem Marx-Engels-Forums in dessen Zentrum sich eine Statue von Marx und Engels befindet. Es handelt sich dabei um eine von sieben „Talking Statues“ in Berlin, die mit eine QR-Code ausgestattet, ihre Geschichte erzählen können. In diesem Fall spricht der ehemalige Politiker der Linken, Gregor Gysi, den Text und erzählt die Geschichte des Forums, das von 1986 bis 2010 den Mittelpunkt einer parkartigen Denkmalanlage bildete, und das noch von der DDR-Regierung in Auftrag gegeben war. Von mehreren Künstlern geschaffen, stellt es „die Befreiung des Menschen aus unwürdigen Zuständen durch den Sozialismus dar und ehrte die in doppelter Lebensgröße aufragenden Marx und Engels als diejenigen, die diesen historischen Prozess beschrieben hatten“, wie es auf der Webseite der „Talking Statues“ heißt.

Der Künstler Erik Göngrich hat sich intensiv mit dem Forum beschäftigt und daraus 2017 ein Berliner Heft zum Thema herausgegeben. In diesem illustriert er die Geschichte des Forums und des Rathausplatzes, wie er den Park nennt. Beginnend mit dem Jahr 1945 zeichnet er die verschiedenen Pläne für und realen Zustände des Platzes, wobei er einen Schwerpunkt auf die Beteiligungsverfahren zur Gestaltung des Platzes legt, die es seit 1999 gibt. Und es gab viele! Das letzte wurde von der Stadtwerkstatt Berliner Mitte nach einem Beschluss im August 2017 zur „Neuausrichtung der Stadtdebatte Berliner Mitte“ initiiert, der den Wettbewerb zur Grün- und Freiflächengestaltung des öffentlichen Raumes am Berliner Rathaus, im Frühjahr 2020 ausgelobt, begleiten und vorbereiten soll. Zu hoffen ist, dass der Platz als heterogener Erinnerungsort mit seinen vielfältigen historischen Spuren und Geschichten erhalten bleibt!

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