Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Mit einem selbstgebauten Boot zur documenta 15

08.06.2022
Das citizenship nimmt seine Reise nach Kassel zur documenta 15 auf. Foto: Martina Pozzan
Das citizenship nimmt seine Reise nach Kassel zur documenta 15 auf. Foto: Martina Pozzan

Was fährt denn da? Ein Riesenfloß! Am 2. Juni tuckert ein ungewöhnliches Boot die Spree entlang – vorbei am Reichstag, dem Bahnhof Friedrichstraße bis zum Bode-Museum und wieder zurück. Es ist der Beginn einer langen Reise (vom Westhafen nach Kassel zur documenta 15) und der Start des Projektes citizenship des Künstlerkollektivs KUNSTrePUBLIK (Matthias Einhoff, Philip Horst, Harry Sachs). Sie haben sich vorgenommen, im Kollektiv und mit kollektiver Hilfe, auf einem Boot fossilbrennstofffrei zur documenta 15 zu fahren.

Schaut man genauer hin, kann man erkennen, dass es sich bei der Holzkonstruktion, die auf einem Stahlrahmen und Pontons angebracht ist, um ein umgedrehtes Dach handelt, das zu einem Trimaran umgebaut wurde. Tatsächlich befand es sich bis vor kurzem auf einem der Gebäude des Zentrums für Kunst und Urbanistik in Moabit, das vom Künstlerkollektiv KUNSTrePUBLIK seit zehn Jahren betrieben wird. Doch da der ehemalige Güterbahnhof umgebaut und um ein Stockwerk erhöht wird, wurde das Dach nicht mehr benötigt, entfernt und zu einem weiterverwertbaren Rohstoff. Und als die Einladung der documenta fifteen nach Kassel kam, entstand die Idee, das Dach in einem kollektiven Prozess zu einem Boot umzubauen und damit auf dem Wasser nach Kassel zu fahren. Auf Wannsee, Havel, Mittellandkanal, Weser und Fulda kommt das citizenship an vielen kleinen und ein paar größeren Städten vorbei, wie Genthin, Wolfsburg, Hannover, Hameln, Holzminden und Wilhelmshausen. Insgesamt werden 55 Stationen angesteuert, jeden Tag geht es eine Station weiter, werden neue Passagiere an Bord genommen, bis am 22. Juli Kassel erreicht werden soll.

Bei der Berliner Auftaktrunde am 2. Juni durch die Spree kann man sich das Boot genau anschauen. Es ist 6,5 Meter breit und 16 Meter lang, in der Mitte befindet sich eine schmale Küchenzeile, im hinteren Teil eine Dusche und ein Klo, vorne sind mehrere Drahtesel eingebaut, mit denen das Boot angetrieben werden kann. Auf einem schmalen Dach-Balken sind zusätzlich mehrere Photovoltaikpaneele und ein Propeller angebracht, von hier aus lassen sich zu jeder Seite Sonnensegel herunterlassen. Ein kleines Beiboot ist auch dabei, genauso wie eine Vorrichtung am Bug, mit der sich das Boot ziehen lassen kann sowie zwei Kameras, die das ganze Geschehen auf Twitch live senden.

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Screenshot des Livestreams vom 3. Juni
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Screenshot des Streams vom 8. Juni. Die umgedrehte Perspektive soll an die ursprüngliche Funktion des Floßbodens als Dach erinnern.

Langsam füllt sich das Boot mit Menschen, Lebensmitteln und Mitbringseln. Nun bekommt man einen Eindruck der vielfältigen Akteur*innen, die bei dem Projekt mitwirken: Bootsbauer und Zimmermänner, Mitarbeiter des Fachbereichs Schiffsbau der Uni Rostock und des Fraunhofer Institut in Kassel, Skipper, Studierende, Künstler*innen, Musiker*innen, Webdesigner, Community-Programm-Kurator*innen und -produzent*innen etc. Mit vielen von ihnen haben die Initiatoren in den letzten Jahren bereits im Rahmen ihrer Aktivitäten im ZK/U kooperiert. Umso glücklicher sind sie, nach drei Jahren Corona-Zwangspause nun wieder mit ihnen Zusammenarbeiten und Zusammentreffen zu können.

Einer von ihnen ist Michael Herzog, er ist Professor an der TH Wildau und unterrichtet dort Maschinenbau. Er hat mit Studierenden an dem Projekt mitgewirkt und erzählt, dass er schon vorher mit dem ZK/U kooperiert hätte und an der Zusammenarbeit so schätzen würde, dass keine klassischen Maschinenbaulösungen, sondern auch unkonventionelle, kreative Lösungen gefragt wären. „Hier kommen ganz unterschiedliche Schulen und Denkweisen zusammen, das ist sehr befruchtend.“

Reiko Kanazawa von mimi ferments ist eine der kooperierenden Künstler*innen. Sie bringt Lebensmittel für ihr Equinox-Dinner vorbei, das sie während der Reise veranstalten wird und die sie nun schon mal auf dem Schiff verstaut. Zwei weitere Personen haben ebenfalls Lebensmittel mitgebracht und bringen sie aufs Boot. Sie sind von der Initiative Food Sharing und haben schon öfter Lebensmittel für die Schnippeldisko oder den Gütermarkt, die regelmäßig am ZK/U stattfinden, beigesteuert.

Ein weiterer Mann fällt ins Auge: er trägt eine grauen Arbeitsoverall mit dem Schriftzug Fraunhofer und heißt Roland Gaber. Er arbeitet am Fraunhofer Institut in Kassel und ist für die ausgetüftelte Energiekombination zuständig. Denn für den Antrieb werden verschiedene Energiequellen kombiniert: Sonne, menschliche Tretkraft und Windkraft. In 39 Batterien wird die Energie, die produziert oder gesammelt wird, gespeichert. Damit wird der Motor betrieben, der das große Gefährt antreibt. 15 bis 20 km/h kann das Boot zurücklegen – je nach Strömung versteht sich.

Für das umfangreiche Communityprogramm, wie das Veranstaltungsprogramm an den einzelnen Stationen und in Kassel genannt wird, wurden Künstler*innen und Kollektive eingeladen, einzelne Programmpunkte beizusteuern. Dafür wurde auf das bestehende Netzwerk der Initiatoren zurückgegriffen und gleichzeitig neue Kontakte geknüpft.

So wurden im Vorfeld diverse Rudervereine und Bürgermeister*innen angeschrieben, um Anlegestellen und Übernachtungsmöglichkeiten zu sondieren. Reiseverbindungen wurden recherchiert, um das feste Team an Bord und die jeweiligen Gäste unterzubringen und zu koordinieren. Nicht zu vergessen, dass vorab ein Gutachter die Schiffstauglichkeit feststellen musste. Dieser enorme Kommunikations- und Organisationsaufwand gehört zu den kaum sichtbaren und damit weitgehend unbeachteten Produktionsformen dieser Kunstaktion.

Die Crew des citizenships mit Gästen und Beteiligten. Foto: Martina Pozzan

Die Reihe Community-basierte Kunst in diesem Magazin hat erst kürzlich in vier Porträts versucht zusammenzutragen, was Kunstaktionen auszeichnet, die entweder von einem Kollektiv entwickelt werden oder sich im Miteinander realisieren: Sie sind häufig immateriell und manifestieren sich nicht in einem singulären Kunstwerk, das in einem Kunstraum gezeigt wird; sie sind temporär und beziehen zugleich den Produktionsprozess mit ein; es geht um Begegnungen (statt um individuelle Rezeptions-Erlebnisse); im Fokus stehen sinnliche Erlebnisse (statt nur visuelle Eindrücke).

Da das Kurator*innenteam der documenta in diesem Jahr aus dem Kollektiv ruangrupa besteht und vorab auf der Webseite verkündet hat, dass es auf „Grundsätzen wie Kollektivität, gemeinschaftlichem Ressourcenaufbau und gerechter Verteilung“ aufbaut, ist nicht nur die Wahl des Künstlerkollektivs KUNSTrePUBLIK naheliegend, vor allem ist zu erwarten, das Community-basierte Kunst die diesjährige documenta dominieren wird.

Das Eintreffen des citizenship in Kassel wird am 22. Juli erwartet. Da läuft die Kunstausstellung bereits einen Monat. Vor Ort wird das Boot erneut seine Gestalt verändern und in einen Versammlungsort umgewandelt, an dem dann die Reise dokumentiert und weitere Veranstaltungen geplant sind. Man kann sich vorstellen, dass die Frage, was an dieser Aktion Kunst sei, noch öfter gestellt werden wird. Michael Herzog jedenfalls hat eine Antwort parat: Er verstehe das Projekt unter einem erweiterten Kunstbegriff. Es habe das Potential, Emotionen zu erzeugen und vermag Leute in einen Diskurs bringen und auf dringende Themen hinzuweisen, ohne Parolen zu verbreiten.  

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