Die Entstehung des Parks und seine (geplanten) Nutzungen, unter anderem als Tierpark und Filmset, sind Gegenstand des Buches Düne Wedding von Constanze Fischbeck und Sven Kalden. Die Künstlerin und der Künstler haben im Anschluss an ihre Ausstellung mit dem gleichnamigen Titel in der Galerie Wedding 2016 aus den Recherchen und Materialien collagenartig ein Buch zusammengestellt. Die Publikation enthält viele historische Fotografien und Karten und schlägt einen Bogen von den kolonialen und exotisierenden Spuren bis zu den Bemühungen des NABU das Dünen-Naturdenkmal, das sich im Norden des Parks auf dem Gelände einer Gartenarbeitsschule befindet, wiederherzustellen.
Das Buch beginnt mit den unterschiedlichen Nutzungen der ungewöhnlichen Dünenlandschaft am Rande Berlins: „Im 15. Jahrhundert gehörte sie zum Gelände eines Nonnenklosters, später diente das Areal als königliches Jagdrevier. Das preußische Militär errichtete dort Schießplätze, welche die benachbarte, 1896 errichte ‚Luftschiffer Kaserne‘ [heute Julius-Leber-Kaserne] ergänzten. Ab 1898 gab es verschiedene Planungen für die Gestaltung eines großen Parks. Zwischen 1911 und 1915 versuchte die Carl Hagenbeck GmbH, das Gelände teilweise zu kaufen, um einen ‚Zukunfts-Tierpark‘ nach dem Vorbild ihres bereits 1907 in Hamburg-Stellingen eröffneten Tierparks zu errichten. Der Plan eines zweiten Tierparks stieß jedoch auf erhebliche Widerstände“. Diese führten dazu, dass Hagenbeck 1912 seine Pläne aufgeben musste. „Nach dem ersten Weltkrieg wurden die wenigen Baumbestände in den Rehbergen von der hungernden und frierenden Bevölkerung abgeholzt. Zurück blieb nach dem Winter 1918/19 eine wüstenartige Landschaft, die dazu einlud, sich eine nordafrikanische Wüste zu imaginieren.“
Fischbeck und Kalden recherchierten, dass die Planungen für einen Volkspark in den Rehbergen bereits vor dem ersten Weltkrieg entstanden, aber erst 1926 umgesetzt wurden, nachdem Teile der Jungfernheide vom preußischen Staat an Berlin verkauft worden waren. Ein entscheidendes Argument für den Verkauf des vormaligen Gutsbesitzes war die hohe Arbeitslosigkeit in Berlin und der Mangel an öffentlichen Grünflächen und Spielplätzen. Der Text führt aus, dass die Arbeiten im Park als Notstandsarbeiten ausgeführt wurden, was u.a. bedeutete, dass die Arbeiter*innen zwar wieder einer bezahlten Beschäftigung nachgingen, aber unter Tarif entlohnt wurden. Desweiteren heißt es: „Der Park sollte nicht nur der Erholung dienen, sondern auch sportliche, hygienische und pädagogische Aufgaben erfüllen. Insgesamt umfasste der Park 110 Hektar und integrierte einen Friedhof, den ‚Wassersportplatz Plötzensee‘ sowie eine erste ‚Dauerkleingartenkolonie‘ mit 460 Einheiten.“ Mit anderen Worten: „Der Volkspark Rehberge knüpfte mit seinen Nutzungsmöglichkeiten an Konzepte an, welche die gemeinschaftliche und öffentliche Verwendung von Grünflächen als das primäre Ziel eines Parks herausstellten.“[1]
Was ist aus diesen historischen Nutzungskonzepten geworden?
Es ist kurz vor Sonnenuntergang als ich mit Nick Koppenhagen den Volkspark am Eingang Transvaalstraße betrete. Bei der Durchquerung des Parks verändert dieser beständig sein Aussehen und seine Atmosphäre: An einigen Stellen besteht er aus hügeligen Wiesen, an denen der Blick in die Ferne schweifen kann. Hier lässt sich die ehemalige Dünenlandschaft noch am ehesten erahnen. Doch an vielen Stellen verdichten sich die einzelnen Bäume und Gebüsche zu waldartigen Zonen, die in Wildtiergehege übergehen oder von weitläufigen Kleingartenanlagen unterbrochen werden.
Wir laufen an einem Tümpel vorbei und kommen zu einer großen, eingefassten Wiese, an dessen Kopfende sich zwei denkmalgeschützte Gebäude und eine Ringer-Skulptur von 1906 befinden, die auf die damalige Aufgabe als Ertüchtigungsort und öffentlicher Raum verweist. Apropos Sport und Kultur: Es gibt mehrere Sportplätze, darunter ein Stadion und eine Tennisanlage, mehrere Spielplätze sowie ein Freiluftkino und die Gastronomie Schatulle.
Wir gehen an einem Spielplatz und mehreren Findlingen vorbei auf einen freistehenden, riesigen Baum zu. „Diese große Fichte ist der Begriff ‚Chaos‘ zugeordnet. Sein Gegenüber ist der Begriff ‚Order‘, ein Gullideckel, der sich am anderen Ende des Parks in der Kleingartenkolonie befindet.“ Nick Koppenhagen hat den Park als physische Grundstruktur für ein künstlerisches Konstrukt verwendet, dass aus mehreren Elementen besteht: einem Diagramm oder besser Graphen[2], in den Begriffe miteinander verbunden sind, so dass sie ein dichtes Beziehungsnetz ergeben. Für jeden der 165 Begriffe gibt es zudem eine Spielkarte. Zusammen ergeben sie Horizontal Twilight Spells. Wir gehen quer über die Wiese zu einigen Spielgeräten. „Das ist hier ein schönes Beispiel für den produktiven Zufall, der bei der Übertragung des Graphen auf den Park mithineingespielt hat, denn hier befindet sich ‚Young‘.“
Einige Schritte weiter, in einem waldigen Teil des Parks, taucht neben uns das Wildschweingehege auf. Koppenhagen zeigt auf einen Baumstumpf, der sich am linken Wegesrand befindet. „Hier bin ich schon öfter vorbeigelaufen, weil ich den Stumpf nicht sofort gefunden habe, aber es handelt sich dabei um ‚Body‘, dem Antonym von ‚Mind‘. Das ist eine orange Matratze, die von den Hochspringer*innen auf dem Sportplatz benutzt wird.“
Es ist unmöglich die Begriffe zu erraten oder Vermutungen darüber anzustellen, welchen Bestandteilen des Parks Begriffe zugeordnet sind, aber das ist auch nicht so wichtig, denn entscheidend sind andere Dinge: Dass man ohne Ziel und konkreten Zweck durch den Park, sein Unterholz, seine Wege und seine Wiesen streift, und sich dafür sensibilisieren lässt, was es bedeutet, einzelne Elemente mit abstrakten Begriffen zu bezeichnen, mit anderen in Beziehung zu setzen und sie dadurch anders anzuschauen – gleichzeitig handelt es sich um eine Erinnerungstechnik.
Koppenhagen selber sagt über seine Arbeitsweise, dass er mit abstrakten Systemen und deren visuellen wie semantischen Eigenschaften arbeitet. Während des langen Zeitraums, in dem Horizontal Twilight Spells entstanden ist, ist er regelmäßig im Park spazieren gegangen und hat die Loci-Methode erprobt, eine Form von Erinnerungsarbeit und Assoziationstechnik, die durch die Kunsthistorikerin Frances Yates und ihr Buch „The Art of Memory“ (1966) geprägt wurde. Sowohl die Erstellung des Graphen als auch dessen Übertragung auf den Park geht mit vielen Verknüpfungen und Assoziationen einher, der Versuch sich diese zu merken, in dem man die Orte immer wieder abläuft, ist eine verkörperte Erinnerungsarbeit. „In täglichen Begehungen entsteht so meine Gedächtnisdüne, die an epistemische Praktiken vor-schriftlicher Kulturen anknüpft“, kommentiert er sein Vorgehen. Die zunehmende Dunkelheit schafft eine diffuse Atmosphäre, die gut zum Ansatz von Koppenhagen passt, nivelliert sie doch Gegensätze und schärft gleichzeitig die Sinne.
Dass er den Begriff Gedächtnisdüne verwendet, ist kein Zufall, denn er kennt das Buch über die Düne Wedding und ihm gefällt, dass eine Düne, wie auch das Gedächtnis (und die Erinnerungstechnik), nicht statisch, sondern in permanenter Bewegung ist. Dass Dünen aus Sand besteht, der sich anhäuft und wieder weiterzieht, und der sowohl mit Stränden als auch mit Wüsten assoziiert wird und für die Bauindustrie ein immer rarer werdenden Rohstoff darstellt, fasziniert auch Sven Kalden. Folgerichtig war die Düne zentrales Element in der Ausstellung in der Galerie Wedding: in Form einer großformatigen Tapete und einer symbolischen Düne in Form eines Sandhaufens. In der Publikation wird die Geschichte der Düne um die verschiedenen Nutzungsweisen des Parks erweitert, die durch koloniale Machansprüche ebenso geprägt sind wie von sozialdemokratischen Stadt- und Parkvorstellungen und von einem Fotoessay von Akinbode Akinbiyiabgerundet, der den historischen Rückblick mit der Gegenwart kurzschließt.
Am 29.10. stellen Sven Kalden und Constanze Fischbeck ihr Buch in der Galerie Wedding vor (Infos hier), eine weitere Buchpräsentation folgt im Dezember bei Savvy Contemporary.
[1] Constanze Fischbeck/ Sven Kalden: Düne Wedding. Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt Nr. 8, Berlin 2020, S. 8, 26, 31, 44, 46.
[2] Koppenhagen verwendet die Plattform Graph Commons.