Anna-Lena Wenzel

Dr. Anna-Lena Wenzel* ist Autorin und Künstlerin. Nach ihrem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg promovierte sie über „Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst“. Sie betreibt das Online-Magazin 99 % Urban und den Radiosalon für Alltägliches und ist in unterschiedlichen kollektiven Zusammenhängen unterwegs.

Tier-Mensch-Kohabitationen

26.10.2021
Hörstation mit Recherchematerial am Tag der Präsentation der "Tier-Topografien", Bild: Anna-Lena Wenzel

Zwei Projekte widmen sich dem Zusammenleben von Tieren und Menschen im Stadtraum: „Tier-Topografien“ versammelt Audiostücke von Studierenden im Tieranatomischen Theater und „Cohabitation“, initiiert von ARCH+, verhandelt das Thema aus künstlerisch-theoretischer Perspektive.

„Was heißt es eigentlich, die Stadt von den Tieren her zu denken?“, fragen Mareike Vennen und Britta Lange in ihrem einführenden Audiobeitrag zur Ausstellung Tier-Topografien im Tieranatomischen Theater auf dem Charité-Gelände. Bevor sie die Frage an Besucher*innen richten, haben sie sie in einem Projektseminar im Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt Universität gestellt. Das Ergebnis sind vier Audiogeschichten, in denen Studierende dem Miteinander von Tier und Mensch in der Stadt Berlin nachgehen. Es handelt sich um „ortsspezifische Erkundungen und Perspektiven auf Orte, an denen Tiere eine besondere Rolle spielen, in der Geschichte oder in der Gegenwart. Orte, an denen sich Tiere aufhalten, an die sie gebracht werden, wie Schlachthöfe, Zoos, Museen, das Tieranatomische Theater. Und Orte, die sie einnehmen: Parkanlagen, Mülldeponien, Industriebrachen, Bahnstationen.“ Aus der Vielzahl an Fragen haben sich vier Schwerpunkte herauskristallisiert, denen sich die Studierenden en Detail gewidmet haben: Katzenkolonien: Wer weiß, wo in Berlin die wilden Katzen wohnen? Berliner Grenzhunde: Was für ein Leben führten die Schutz-, Trassen- und Fährtenhunde, die im ehemaligen Todesstreifen an der Berliner Mauer patrouillierten? Tote Tiere: Was geschieht eigentlich mit den Heimtieren aus tausenden Berliner Haushalten nach ihrem Tod? Spukendes Vieh: Was passiert heute auf dem Gelände des alten Schlachthofs bei der Storkower Straße in Berlin-Pankow?

Zur Präsentation im Tieranatomischen Theater am 7. Oktober 2021 haben die Studierenden Tische aufgestellt, auf denen sie ihre Recherchematerialien ausgebreitet und iPads bereitgestellt haben, in die man seine mitgebrachten Kopfhörer stecken kann. Es liegen Fotos aus, auf einem Tisch steht ein Katzenkorb neben Informationsmaterial vom Tierbestattungszentrum „Tierhimmel“, an anderen gibt es Bücher und Zettel mit ausführlichen Quellenangaben. Daraus geht hervor, wie vielfältig die Studierenden recherchiert haben: Neben Gesprächen mit der Pressereferentin des Tierheims Berlins und Mitarbeiter*innen der Tiersammelstelle haben sie historische Aufnahmen von Erich Honecker ausfindig gemacht, zitieren aus Verordnungen zur Durchführung des Tierischen Nebenprodukte-Beseitigungsgesetztes und haben Audiospuren (wie Hundegebell und Straßengeräusche) in Datenbanken recherchiert. Auf diese Weise werden Zusammenhänge und Infrastrukturen sichtbar, die den meisten Menschen verborgen bleiben oder über die man einfach nicht nachdenkt, wenn man kein Haustier hat. So aber wird man angeregt darüber nachzudenken, was für ein Leben die Hunde geführt haben, die im Mauerstreifen in Berlin patrouillierten, wo es Futterstellen für wilde Katzen gibt und was für ein Paradox es ist, dass „Nutz“-tiere in der Stadt getötet und verspeist werden, während „Haus“-tiere verhätschelt werden – mit beiden jedoch umsatzstarke Geschäfte gemacht werden. 

Nach dieser Präsentation, die nur einen Nachmittag in dieser Form stattfand, sind die Hörstücke in die Dauerausstellung gewandert und können dort täglich (außer samstags und sonntags) bis zum 17. Dezember 2021 von 14:00 bis 18:00 Uhr angehört werden.

Ausstellungsansicht im Tieranatomischen Theater, Bild: Mareike Vennen

Ort und Projekt passen perfekt zusammen, denn das Tieranatomische Theater diente seit 1790 als Lehrgebäude für die veterinärmedizinische Lehre und Forschung, das heißt hier wurden unter den Blicken von Studierenden Pferde und Rinder und andere Tiere seziert. Heute versteht es sich als „Ausstellungsraum und Bühne für experimentelle Darstellungsformen und ein Labor für kuratorische Praktiken. Als Forschungseinrichtung der Humboldt-Universität zu Berlin konzentriert das Tieranatomische Theater die kritische Auseinandersetzung mit der vielgestaltigen Rolle von Sammlungen, materiellen Dingen und den sie bewahrenden Institutionen.“[1] 

Dass das Thema gerade virulent ist, zeigt sich daran, dass parallel zu der Veranstaltung im Tieranatomischen Theater, das Museum für Naturkunde zu einer Präsentation des Projektes Cohabitation einlud – die erste an diesem Ort seit der Corona-Pandemie! Dabei handelt es sich um ein Ausstellungs- und Veranstaltungsprojekt, das im Sommer im silent green und an anderen Orten stattfand und sich ebenfalls dem symbiotischen wie konfliktuösen Zusammenleben von Tier und Mensch in urbanen Räumen widmete. Neben mehreren Redner*innen, die in das Projekt einführten, stellten Moritz Ahlert und Alsino Skowronnek zu diesem Anlass ihre Video-Installation Mapping the Post-Human City vor, die auch in der Ausstellung zu sehen war. Darin übersetzen sie Rechercheergebnisse, Tierfotos und -stimmen in eine visuelle Form, kombinieren in anderen Worten Fakten mit sinnlichen Qualitäten. Einer der ausgewählten Orte war der Tiergarten, in dem Zugvögel Halt machen und an den Glasfassaden des Potsdamer Platzes verenden, in dem zahlreiche Biber hausen und sich der Rote Amerikanische Sumpfkrebs ausgebreitet hat, der vermutlich von Aquarianer*innen ausgesetzt wurde und nun seit zwei Jahren gefangen und als Delikatesse verkauft wird. Weitere Kartierungen zeigen auf, wann Tiere wie Waschbären in die Stadt gekommen sind, wie sich der Große Abendsegler durch die Stadt bewegt oder sich Nachtigallen an ihre urbane Umgebung anpassen. 

Installationsansicht “Mapping the Post-Human-City” im silent green, 2021, Bild: dotgain ©Cohabitation

Neben der offensichtlichen Gemeinsamkeit, dass in beiden Projekten Recherchen als Ausgangspunkt dienen, die in eine künstlerische Form, in auditive und visuelle Topografien, übersetzt werden, zeigen sich im Gespräch mit den Beteiligten weitere Parallelen. So hatten beide mit Verzögerungen aufgrund der Corona-Pandemie zu kämpfen: Noch einen Monat vor Eröffnung der Ausstellung im silent green war unsicher, ob diese überhaupt stattfinden könne. Die Erleichterung war groß, dass sich die Bestimmungen zum angepeilten Termin lockerten, auch wenn die Ausstellung nur einen Monat gezeigt werden konnte. Auch das Seminar war aufgrund von Corona ein Semester nach hinten verschoben worden und musste dann digital durchgeführt werden – ein ganz schönes Handicap, weil ursprünglich geplant war, Exkursionen in die Stadtlandschaft, Besuche in Sammlungen wie dem Lautarchiv des Museums für Naturkunde zu machen, die nun so nicht durchgeführt werden konnten. „Wir haben trotzdem versucht, sie maximal mit Input zu versorgen“, erzählt Britta Lange und die Ergebnisse zeigen, dass ihnen das offensichtlich gelungen ist.

Was die beiden Projekte noch verbindet, sind die komplexen Kooperations- und Finanzierungsstrukturen. So ist das Seminar Teil des Projektes Tiere als Objekte, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wird. Mithilfe der Unterstützung der Humboldt-Universitäts-Gesellschaft konnte für die Studierenden ein Audio-Workshop mit Constantin Hühn und Johanna Tirnthal vom Audiokombinat angeboten werden, um die Grundlagen der Audio-Bearbeitung zu vermitteln. Die Veranstaltung im Museum für Naturkunde wiederum fand im dortigen Dinosauriersaal statt, weil es eine Kooperation zwischen dem dort angesiedelten Citizen-Science Projekt und dem Cohabitation-Projekt gab – in Form einer finanziellen Unterstützung, aber auch in Form von Austausch und der Möglichkeit, Tierstimmen aus dem umfangreichen Archiv des Museums für die Soundarbeit zu nutzen.

Trotz der Corona-Verzögerungen waren die Beteiligten am Ende zufrieden. „Wir waren begeistert darüber, wie intensiv die Studierenden recherchiert haben. Es gab einige überraschende Ergebnisse wie die Recherchen zu den toten Tieren, die nicht nur bestattet, sondern auch wiederverwertet werden. Uns hat der Mut erfreut, den die Studierenden bewiesen haben, sich auf die Form einzulassen und mir ihr zu experimentieren, zum Beispiel das Stück zu den Mauerhunden, das hat Hörspiel-Charakter!“, sagt Britta Lange. Und auch Moritz Ahlert ist sehr froh, dass er das Projekt, das bis auf das noch kommende ARCH+-Heft schon abgeschlossen ist, noch einmal vor Publikum vorstellen konnte, um es in größerer Runde zu diskutieren.

Verlässt man die Ausstellung im Tieranatomischen Theater ist gewiss, dass man sich zukünftig anders durch die Stadt bewegen wird – sei es weil das Gehör für das Quieken der Ratten oder das Maunzen der streunenden Katzen sensibilisiert wurde oder sich der Blick auf den Stadtraum als geteilter Raum um die vielfältigen Konflikte und Anpassungsprozesse von Tier und Mensch erweitert hat.

[1] https://tieranatomisches-theater.de/ueber-uns/

INFOS:
Tier-Topografien. Audiogeschichten über Tiere in Berlin
https://animalsasobjects.org/
8. Oktober bis 17. Dezember 2021: montags bis freitags von 14:00 – 18:00 Uhr bei freiem Eintritt.
Tieranatomisches Theater, Philippstraße 13, (Campus Nord, Haus 3), 10115 Berlin

Mit Anne Hoffmann, Sophie-Marie Kaatsch, Eileen Klingner, Britta Lange, Marie Permantier, Mareike Vennen.

Die Veranstaltung „Cohabitation“ im Museum für Naturkunde ist hier archiviert.

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